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40 Jahre Seveso-Unglück: Giftwolke über Italien

Eine Explosion gewaltigen Ausmaßes erschüttert am Mittag des 10. Juli 1976 die Chemiefabrik Icmesa in der Lombardei. Die Gaswolke, die dabei frei wird, wird in den folgenden Tagen ganze Landstriche verseuchen: Sie enthält eines der potentesten Umweltgifte überhaupt. Heute jährt sich der fatale Unfall zum 40. Mal.

Meda, der Zentrum der gleichnamigen Gemeinde nördlich von Mailand
Meda ist eine von vielen kleinen Städtchen in der Lombardei – und außerhalb von Italien wäre sie den meisten Menschen unter normalen Umständen heute wohl völlig unbekannt. Doch in den Tagen nach dem 10. Juli 1976 gelangt der Ort zu trauriger Berühmtheit. In der Stadt unweit von Mailand ereignet sich an diesem Samstag einer der größten Chemieunfälle in der Geschichte Europas.

Explosion im Reaktionskessel

Mittags um 12.37 Uhr kommt es in der dort ansässigen Chemiefabrik Icmesa zu einem fatalen Fall menschlichen Versagens. Durch einen Bedienungsfehler steigt die Temperatur in einem Behälter der Anlage immer weiter an und die Überhitzung erzeugt eine starke Druckerhöhung. Das Problem: In dem Behälter wird Trichlorphenol (TCP) produziert, ein Stoff, der noch heute als Vorprodukt für die Desinfektionsmittelherstellung verwendet wird. Läuft dieser Prozess bei zu hohen Temperaturen ab, entstehen große Mengen des Umweltgiftes Dioxin.

Diese werden in die Luft geblasen, als ein Sicherheitsventil des Kessels dem rasanten Temperatur- und Druckanstieg irgendwann nicht mehr standhalten kann. Die angeheizte Reaktion endet in einer gewaltigen Explosion. Mehrere Kilogramm 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-Dioxin (TCDD) werden dabei mutmaßlich freigesetzt – wie viel genau, weiß niemand.

Karte mit den betroffenen Gemeinden (rot = stark, blau = mittel; grün = geringer)

Gemeinfrei

Gefährliche Giftwolke

Die giftgeschwängerte Gaswolke breitet sich nach dem Unfall blitzschnell aus und verseucht nicht nur Wiesen, Bäume und Ackerflächen rund um das Fabrikgelände. Sie treibt mit dem Wind auch in Orte wie Seveso – tagelang schwebt die Wolke über der Gemeinde, die dem Unglück später seinen Namen gibt. Insgesamt verteilt sich das Gift Schätzungen zufolge über eine Fläche von 320 Hektar.

Pflanzen, Tiere und Menschen sind in den betroffenen Gebieten akuter Gefahr ausgesetzt. Denn TCDD hat es in sich. Es gilt als eines der stärksten Gifte überhaupt. Schon ein Millionstel Gramm Dioxin reicht völlig aus, um Nagetiere wie Ratten oder Meerschweinchen zu töten. Beim Menschen hat es unter anderem eine krebsauslösende Wirkung. Trotzdem informiert die Firmenleitung die Öffentlichkeit zunächst nicht über die möglichen Risiken des Vorfalls. Auch die Produktion in der Fabrik geht erst einmal ohne Einschränkungen weiter.

Verwelkte Pflanzen und verendete Tiere

Erst eine Woche nach dem Unglück wird bekannt, was die Icmesa-Betreiber von Beginn an wussten. Dass etwas nicht stimmt, bemerken die Menschen jedoch schon vor der offiziellen Bestätigung. Denn in den folgenden Tagen hinterlässt das Gift ein Bild der Verwüstung: Blumen verwelken, Bäume lassen ihre Blätter hängen, Tiere wirken aufgebläht und verenden. Kadaver säumen die Straßen.

Menschliche Todesopfer gibt es bis heute offiziell zwar nicht. Allerdings erkranken zahlreiche Bewohner der Gegen an einer gefährlichen "Chlorakne" mit den typischen, chronischen Hautveränderungen – betroffen sind fast ausschließlich Kinder. Sie sind es auch, die Untersuchungen zufolge seit dem Unglück vermehrt unter Entwicklungsstörungen leiden. Mehrere Studien haben zudem mittlerweile festgestellt, dass sich in den damals durch das Dioxin verseuchten Gebieten, tatsächlich bestimmte Krebsformen und Hautgeschwüre in der Bevölkerung häufen.

Bosco delle Querce - der Eichenwald - in Seveso
Schlampigkeit oder Vorsatz?

Die Schuld an dem Dioxin-Desaster will naturgemäß niemand tragen. Nach dem Ereignis mehren sich jedoch Hinweise darauf, dass nicht nur die schlampige Arbeit einer Person zu dem Unfall geführt hat. Es ist von Managementfehlern und mangelndem Wissen über die Gefahren des Trichlorphenols die Rede.

Zudem kursieren Gerüchte, dass das Dioxin in der Icmesa-Fabrik womöglich sogar mit Vorsatz erzeugt worden sein könnte: Als Zutat für die Produktion von Agent Orange – jenes Entlaubungsmittels, dass von den USA im Vietnam-Krieg massiv als chemische Waffe eingesetzt wurde. Ob an solchen Vermutungen etwas dran ist, ist auch lange nach dem Seveso-Unglück nicht endgültig geklärt.

In Meda erinnert 40 Jahre nach dem Vorfall kaum noch etwas an die Icmesa-Anlage und das, was dort am 10. Juli passierte. Auf dem Gelände der abgerissenen Fabrik befindet sich heute ein Sportplatz. Lediglich der Straßenname "Via Privata Icmesa" zeugt von der einstigen Chemiefabrik.

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