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Jasper Johns' Flag: Was ist Identität?

Welcher Frage geht Jasper Johns in seinem Kunstwerk nach?

Der Künstler provoziert die Frage nach der Identität: »Ist es eine Flagge oder ist es ein Gemälde?« Jasper Johns' »Flag« lässt Gegenstand und Abbild deckungsgleich werden und konfrontiert den Betrachter mit der Frage nach der Identität von Ding und gemaltem Ding (= Bild). Dabei geht es dem Maler um mehr als um einen kunstinternen Diskurs: Mit schnellem Spachtel- und Pinselaufstrich hat er die amerikanische Nationalflagge maßstabgerecht und farblich korrekt reproduziert. Doch bereits der deutlich sichtbare malerische Arbeitsvorgang weist diese Flagge eindeutig als gemalte aus, so dass die oben angeführte, vom Künstler selbst formulierte Frage eher lauten sollte: »Ist es eine gemalte Flagge oder ein abstraktes Gemälde?«

Wie kam Johns zur malerischen Wiedergabe der Alltagskultur?

Für den Künstler war es ein Neubeginn. 1954 hatte er, 24 Jahre alt, alle bisher entstandenen Arbeiten seines Frühwerkes zerstört. Mit »Flag« begann Jasper Johns seine künstlerische Karriere dann ein zweites Mal. Nun konzentrierte er sich auf die malerische Reproduktion, gleichsam das Recycling, der in der Alltagskultur vorgefundenen Bildmotive wie Fahnen, Zielscheiben, Landkarten, Zahlen, Buchstaben und so weiter. »Der Anblick einer Sache kann manchmal dazu animieren, etwas Anderes zu machen. In manchen Fällen finden sich dann in dem neuen Werk – gewissermaßen als Sujet – Hinweise auf das, was man ursprünglich gesehen hat. Und weil es zwischen Werken der Malerei in der Regel viele Gemeinsamkeiten gibt, kann die eigentliche Arbeit Erinnerungen an andere Werke in Gang setzen. Diese —Geister‹ zu benennen oder zu malen erscheint manchmal wie ein Mittel, ihrem Nörgeln ein Ende zu setzen«, so Johns 1982.

Wo setzt Johns' Werk kunstgeschichtlich an?

Jasper Johns knüpft mit seiner Malerei an eine Diskussion an, die in Europa durch den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus für mehr als 20 Jahre unterbrochen gewesen war. Es ging um die Entwicklung der Abstraktion durch Expressionismus, Konstruktivismus und Dadaismus, die dann in den 1950er Jahren auch in den USA erneut diskutiert wurde. Hier setzen die Gemälde eines Jasper Johns an, der sich in radikaler Art erneut auf den vorgefundenen Gegenstand, also Objekte des Alltags, konzentrierte: »Ich interessiere mich für Dinge, die Dinge nahelegen, die einfach sind, statt für Urteile über Dinge. Das konventionellste Ding, das gewöhnlichste Ding – mit denen kann man, glaube ich, umgehen, ohne sie beurteilen zu müssen; sie scheinen ohne alle ästhetische Hierarchie als eindeutige Tatsachen.«

Beschränkte sich der Künstler auf die Malerei?

Nein, in »Tango« (1955) hatte Jasper Johns versucht, Tanz und Musik, Bewegung und Rhythmus in einem ebenso einfarbigen wie vielfarbigen Gemälde zu verarbeiten. Bereits ein Jahr früher – also parallel zur Entstehung von »Flag« – hatte der Künstler mit »Star« eine Mischform aus Malerei und Skulptur geschaffen. Eine Mischform, so könnte man formulieren, aus Raumbild und Bildraum. Bei dieser Arbeit handelt es sich um ein in formaler und konzeptueller Hinsicht »offenes Kunstwerk«, das keine vorgegebene Bedeutung an den Betrachter heranträgt, ganz in dem Sinn, wie es der italienische Wissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco in den 1960er Jahren entwickelt hat. Vor allem für die junge Künstlergeneration des beginnenden 21. Jahrhunderts wird die Form des offenen Kunstwerks wieder interessant.

Als der französische Künstler Marcel Duchamp in den 1920er Jahren einen Flaschentrockner ausstellte, verwies er mit diesem Readymade (fertiger Kunstgegenstand) auf den kreativen Akt der Wahl des Gegenstandes. Der Trockner wurde zur Ikone der so genannten Dada-Bewegung (eine literarisch-künstlerische Bewegung gegen die Vorstellung, dass Kunst Inhalte vermitteln muss). Den Vertretern der Pop-Art– und damit neben Roy Lichtenstein, Andy Warhol und anderen auch Jasper Johns– warf Duchamp dann in den 1960er Jahren die völlige Umkehrung seiner ursprünglichen Ablehnung des bürgerlichen Kunstgeschmacks vor: »Im Neo-Dada benutzen sie die Readymades, um ihren —ästhetischen Wert‹ zu entdecken. Ich warf ihnen den Flaschentrockner ins Gesicht als Herausforderung, und jetzt bewundern sie ihn als das ästhetisch Schöne.«

Sinnfällig hat Jasper Johns das Thema der »Flag« von 1954 in den folgenden Jahren mehrfach variiert und mit dem »vorgefundenen Gegenstand« der US-amerikanischen Nationalflagge geradezu experimentiert: In »White Flag« wird der ursprüngliche farbliche Wechsel der Stars and Stripes in ein »Grau in Grau« transformiert. In »Three Flags« nimmt Johns deutlich ein Übereinanderstaffeln desselben Sujets vor. Gerade der Vergleich dieser drei Variationen zum Thema »Flag« zeigt deutlich, worum es dem Künstler hier geht: um die Entwicklung der zweidimensionalen Farbfläche in einen dreidimensionalen Bildraum.

Wussten Sie, dass …

Jasper Johns sich seinen Lebensunterhalt eine Zeit lang als Schaufensterdekorateur verdiente? Zuvor hatte er dem Künstler und Freund Robert Rauschenberg bei derselben Tätigkeit assistiert.

Werke von Jasper Johns zu den am höchsten gehandelten Objekten am internationalen Kunstmarkt gehören und Preise von bis zu 12 Millionen Dollar erzielen?

Johns' Werke in allen wichtigen Museen moderner Kunst vertreten sind?

Wie populär war Jasper Johns zu Beginn seiner Karriere?

Eine Weile musste er auf den Erfolg schon warten. Aber der Durchbruch kam noch vor seinem 30. Lebensjahr: In seiner eben eröffneten Galerie präsentiert Leo Castelli eine Einzelausstellung der Werke Jasper Johns'. Seine Bilder sind auf der wichtigen Kunstbiennale in Venedig vertreten und sogar das New Yorker Museum of Modern Art kauft drei Johns-Werke an. Vor seinen Triumphen hatte Johns in den Jahren 1947/48 an der University of South Carolina studiert, von 1949-1951 dann an der Schule für angewandte Künste in New York. 1960 erhielt er auf der Biennale in Pittsburgh den Carnegie-Preis, die Biennale von Venedig verlieh ihm in ihrer Edition von 1964 den ersten Preis. Jasper Johns gilt als Wegbereiter der Pop-Art und Minimal Art. Heute lebt und arbeitet er in New York.

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