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Riemenschneider-Altäre: Letzte Meisterwerke der Spätgotik

Warum dominierte im Mittelalter die Sakralkunst?

Das abendländische Mittelalter war noch grundlegend vom christlichen Glauben geprägt. Die Kunst, die diese Zeit hervorbrachte, entstand deshalb fast ausschließlich für den religiösen Gebrauch. Große Bedeutung kam bereits damals dem Hochaltar zu, vor dem man (wie noch heute) den Höhepunkt der Heiligen Messe feierte, das »Hochgebet« mit der Wandlung von Brot und Wein.

In der Gotik wurden die Altäre in zunehmendem Maße auch zum optischen Mittelpunkt der Kirchen. Die so genannten Wandel- oder Flügelaltäre bestanden – im Aufbau einem Schrank ähnlich – aus einem Mittelschrein und mindestens zwei Seitenflügeln, die zur Verschließung des Schreins dienten.

Was kennzeichnet die spätgotischen Schnitzaltäre?

Bei den spätgotischen Schnitzaltären waren die Flügel meist an ihren Außenseiten bemalt und an den Innenseiten mit geschnitzten Reliefs versehen. Den Mittelschrein zierten plastische Schnitzfiguren oder sogar szenische Darstellungen. Bei mehreren Seitenflügeln ergab sich eine große Wandlungsfähigkeit der Ansichten: An einfachen Werktagen sahen die Gläubigen einen geschlossenen, schlicht bemalten Altar; sonntags und feiertags öffnete er sich hingegen zu einer oft ungeahnt prächtigen dreidimensionalen Ansicht.

Ihre besondere Faszination verlieh diesen kunstvoll ausgearbeiteten Altären der spätgotische Stil, in dem die Künstler in besonders lebendiger Weise die heiligen Geschichten erzählten. Zu den bedeutendsten Bildhauern dieser Zeit gehörten unter anderem Hans Multscher, Michael Pacher, Veit Stoß und Tilman Riemenschneider.

Was war neu an Riemenschneiders Kunst?

Er verzichtete als Erster unter den spätgotischen Künstlern auf dem Gebiet der Schnitzaltäre auf eine polychrome Fassung seiner Altäre, das heißt, dass er diese nicht mehr vielfarbig anmalen ließ. Lediglich Lippen und Augen der Figuren wurden zart eingetönt und der ganze Altar einheitlich mit einer speziellen Lasur aus Leim und Öl überzogen. Für den Künstler bedeutete dies eine enorme Herausforderung, denn man konnte keinerlei geschnitzte Ungenauigkeiten mehr kaschieren. Dafür charakterisierte die Heiligenszenen nun eine ruhige, beschauliche Stimmung.

Eine weitere Invention Riemenschneiders war die Tatsache, dass er erstmals die Rückseiten seiner Altarschreine durchbrach. Sie bildeten nun keine geschlossenen Wände mehr, sondern waren als Fenster gestaltet. Dadurch erzielte der Künstler eine größere räumliche Weite und interessante Lichteffekte. Darüber hinaus bewirkte er die Vorstellung eines realen Innenraums, in dem die szenische Handlung seiner Figuren spielt. Betrachtet man die beiden Altäre in der Jakobskirche in Rothenburg ob der Tauber, erkennt man schnell, um wie viel fortschrittlicher Riemenschneiders Heiligblut-Altar (1501–1505) war im Vergleich zu dem älteren Werk (1466) von Friedrich Herlin und Hans Multscher.

Warum gilt Riemenschneider noch nicht als Renaissance-Künstler?

Trotz aller Neuerungen stehen Riemenschneiders Figuren noch ganz in der spätmittelalterlichen Tradition. Nicht individuelle Züge prägen die Gesichter, sondern einige wenige, immer wiederkehrende Gesichtstypen. Darüber hinaus kommt der Darstellung von Händen eine sehr wichtige Rolle zu: Die jeweiligen Gesten sollen die Handlung einer Szene verdeutlichen.

Die künstlerischen Einflüsse, unter denen Riemenschneider seine Altäre schuf, sind vor allem an seinen Reliefs zu beobachten. Einerseits knüpfte er an die oberrheinische und schwäbische Kunst an, andererseits greift er deutlich auf Vorbilder der südniederländischen Malerei – etwa Rogier van der Weyden – und Skulptur zurück. Wenngleich Riemenschneider selbst wahrscheinlich nie in den Niederlanden gewesen ist, kannte er den niederländischen Kunststil durch druckgrafische Abbildungen.

Wo lebte und arbeitete Tilman Riemenschneider?

Tilman Riemenschneider wurde um 1460 wahrscheinlich in Heiligenstadt bei Erfurt geboren. Seine Wanderschaft als Künstler führte ihn nach Schwaben und an den Oberrhein. 1478 kam er erstmals nach Würzburg, wo er später die Meisterwürde und das Bürgerrecht erhielt. Hier baute er eine Werkstatt auf, die bald zu den bedeutendsten Altar-Lieferanten in Süddeutschland zählen sollte. Als erstes großes Projekt entstand der Magdalenen-Altar für die Stadtpfarrkirche in Münnerstadt, leider wurde er im 19. Jahrhundert in Stücke geteilt. In ursprünglicher Gestalt erhalten sind hingegen zwei weitere große Altäre in Rothenburg ob der Tauber und Creglingen. Bald stieg Riemenschneider zum Mitglied des Stadtrats von Würzburg auf und wurde sogar zum Bürgermeister gewählt. Als er jedoch 1525 für das Bauernheer eintrat, brachte ihm das nicht nur den Ausschluss aus dem Rat und die Einziehung eines beträchtlichen Teils seines Vermögens, sondern sogar zwei Monate Kerkerhaft und Folter ein.

Wussten Sie, dass …

zur Zeit Tilman Riemenschneiders Anfang des 16. Jahrhunderts in Italien die Renaissance bereits ihren Höhepunkt erreicht hatte? Im deutschsprachigen Raum kam es dagegen damals vielerorts zu einem letzten Aufblühen spätgotischer Kunst.

der Heiligblut-Altar seinen Namen einer Reliquie verdankt? Diese wird in einer Bergkristallkapsel des Reliquienkreuzes im Gesprenge aufbewahrt.

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