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Bitte keine Klischees

Pluralismus, Demokratie, Gleichberechtigung für alle gesellschaftlichen Gruppen – diese Werte prägen unsere Gesellschaft, und wir sind stolz darauf. Aber sind wir wirklich so tolerant und offen, wie wir uns gern sehen? Diese fünf Vorurteile gegenüber Schwulen und Lesben halten sich auch heute noch – sie werden nur seltener offen ausgesprochen.
von Alexandra Mankarios, wissen.de

Vorurteil Nr. 1: „Homosexualität ist eine Krankheit“

So direkt würde das natürlich niemand sagen. Die Weltgesundheitsorganisation hat 1992 – relativ spät – die Homosexualität aus dem Katalog der psychischen Störungen entfernt und damit klare Verhältnisse geschaffen. Heute sprechen wir von der sexuellen Identität einer Person, die zum Beispiel hetero- oder eben homosexuell sein kann. Trotzdem lassen sich noch immer Verhaltensweisen gegenüber Schwulen und Lesben beobachten, die den Anschein erwecken, als müsste sich da jemand vor Ansteckung schützen. Als die Kultusministerien mehrerer Bundesländer beschlossen, Homosexualität in den schulischen Sexualkundeunterricht aufzunehmen und so schon früh der Diskriminierung entgegenzuwirken, liefen vor allem religiöse Gruppen Sturm. „Wenn dann erst Homokunde in den Schulen erfolgreich ‚flächendeckend’ eingeführt ist, können wir damit rechnen, dass noch mehr Jungen und Mädchen ... in der normalen, entwicklungsbedingten homoerotischen Phase steckenbleiben“, kommentierte beispielsweise die für ihre christlich-konservativen Standpunkte bekannte Jugendpsychotherapeutin Christa Meves. Mit anderen Worten: Wer im falschen Alter erfährt, dass es Schwule und Lesben gibt, könnte selbst bald dazu gehören. Und noch eine zweite Botschaft steckt in dem Statement der umstrittenen Expertin: Eine psychisch normal entwickelte Person ist immer heterosexuell, Homosexualität ist eine Entwicklungsstörung. Auch die von türkischen Muslimen gegründete deutsche Partei „Bündnis für Innovation & Gerechtigkeit“ (BIG) geht auf die Barrikaden, wenn es um die schulische Aufklärung über Homosexualität geht. Im Berliner Wahlkampf 2011 verteilte die Partei Flugblätter, auf denen zu lesen war: „Alle Kinder schützen. BIG Partei gegen Schulfach ‚Schwul’“. Da ist er wieder, der Tenor: Kinder müssen vor Homosexualität geschützt werden.

Die Wahrheit ist: Auch wenn religiöse Eiferer etwas anderes behaupten – die Gründe, warum manche Menschen eine andere sexuelle Identität entwickeln als die Mehrzahl, sind wissenschaftlich noch nicht geklärt. 2008 veröffentlichten schwedische Forscher eine Studie, für die sie über 3.800 Zwillingspaare zu ihren sexuellen Erfahrungen und Interessen befragt hatten. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Ursachen, die zur Ausprägung der sexuellen Identität führen, ziemlich komplex sind. Sowohl erbliche Faktoren als auch individuelle Erfahrungen spielen dabei eine Rolle. Den geringsten Einfluss haben das gesellschaftliche und familiäre Umfeld. Anzeichen für gesunde und kranke Entwicklungen konnten die Forscher ebenso wenig identifizieren wie ein bestimmtes Gen, das zu Homosexualität führt.

 

Vorurteil Nr. 2: „In einer homosexuellen Beziehung übernimmt einer die Rolle des Mannes, der andere Partner die Rolle der Frau“

In vielen Beziehungen hat einer die Hosen an – wie man so sagt. In dem etwas biederen Spruch steckt auch gleich ein historischer Hinweis, wie alt diese Redensart sein muss – schließlich wurde das praktische Kleidungsstück für Damen erst mit der Frauenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts schicklich. Noch älter ist wahrscheinlich die Vorstellung, dass eine Beziehung zwischen zwei Menschen nur funktionieren kann, wenn beide Partner sich an die klassische Rollenaufteilung halten. Dahinter steckt eine ziemlich überkommene „Logik“: Männer sind von Natur aus dominant, Frauen dagegen unterwürfig und darauf bedacht, durch so genannte „weibliche Reize“ zu gefallen. Wer so denkt, kommt bei schwulen und lesbischen Paaren ins Schleudern – und rückt sich die Welt in Ordnung, indem er Schwulen und Lesben eine Identität irgendwo zwischen „normalen“ Männern und Frauen unterstellt. Zum Beispiel mit der Vorstellung, viele lesbische Frauen seien kurzhaarig, kleideten sich eher kernig-männlich und pflegten ein aggressives Auftreten. Schwule Männer gelten schnell als „Tunten“, die sich am liebsten schminken und Kleider anziehen würden – und mit diesen weiblichen Eigenschaften dann auch problemlos den „weiblichen“ Part in der Rollenaufteilung einnehmen könnten.

Die Wahrheit ist ganz einfach. Männer und Frauen sind individuell sehr unterschiedlich. Manche Lesben und Schwule entsprechen äußerlich dem Klischee, mancher heterosexuelle Mann und manche heterosexuelle Frau werden ebenfalls aufgrund ihres Aussehens gelegentlich für schwul oder lesbisch gehalten. Den Großteil der Homosexuellen kann man jedoch am Äußeren ebenso wenig erkennen wie man den meisten heterosexuellen Menschen nicht ansehen kann, ob sie in der Beziehung häufiger Entscheidungen treffen als der Partner. Wer glaubt, dass in homosexuellen Beziehungen grundsätzlich einer die Hosen anhaben muss, verrät damit vor allem, wie überkommen seine eigenen Vorstellungen von Beziehungen sind – heterosexuelle Beziehungen inbegriffen.

 

Vorurteil Nr. 3: „Jemand ist entweder homosexuell oder er ist es nicht“

„Ein bisschen bi schadet nie“, auch diesen Spruch hat jeder schon einmal gehört, wenn auch möglicherweise nicht umgesetzt. Wenn es um die sexuelle Identität geht, stehen in unserer Gesellschaft die Zeichen auf Schwarzweiß-Malerei. Wird ein männlicher Promi nach etlichen heterosexuellen Liebesaffären in verdächtiger Nähe zu einem anderen Mann gesichtet, fragen die Boulevard-Magazine nicht, ob er bisexuell sein könnte, sondern wittern gleich eine bisher ungeoutete Homosexualität – so zuletzt zum Beispiel bei dem James-Bond-Darsteller Daniel Craig oder dem US-Schauspieler Zac Efron. Auch in Internetforen ist dieser Trend zu beobachten, wenn Jugendliche in der Anonymität des World Wide Web verzweifelt Antworten auf die Frage suchen, ob sie nun schwul oder lesbisch sind oder eben nicht.

Die Wahrheit ist: Angelina Jolie, die deutsche Nationaltorhüterin Nadine Angerer, der DSDS-Star Daniel Küblböck oder der 1992 verstorbene US-Schauspieler Anthony Perkins, der uns eins als Norman Bates in Hitchcocks Thriller Psycho das Fürchten lehrte – sie alle haben gemeinsam, dass sie dem Sex sowohl mit Männern als auch mit Frauen etwas abgewinnen können. Wissenschaftliche Studien sprechen dafür, dass sie damit ganz und gar nicht allein sind.
1948 sorgte der US-amerikanische Sexualforscher Alfred Charles Kinsey für Aufregung, als er mit seinem berühmten „Kinsey-Report“ eine wissenschaftliche Studie vorstellte, der zufolge 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung „bis zu einem gewissen Grad“ bisexuell seien. Diese Zahl ist seitdem mehrfach in Frage gestellt worden, denn Kinsey wertete auch gelegentliche homoerotische Fantasien oder einmalige sexuelle Erfahrungen mit dem gleichen Geschlecht als Anzeichen für Bisexualität. Doch auch wenn Kinseys Zahlen möglicherweise zu hoch gegriffen sind, gehen die meisten Wissenschaftler heute davon aus, dass ziemlich viele Menschen prinzipiell bisexuell veranlagt sind, auch wenn nur ein Bruchteil diese Neigung auslebt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das auch ganz anders sein könnte: In Gesellschaften, in denen Sex mit dem gleichen Geschlecht weniger tabu war – zum Beispiel in der griechischen Antike oder in einigen islamischen Gesellschaften des Mittelalters – war es ziemlich weit verbreitet, sich mit beiden Geschlechtern zu verlustieren. Der um 1200 verstorbene islamische Rechtsgelehrte Ibn Al-Gauzi soll gesagt haben: „Derjenige, der behauptet, dass er keine Begierde empfindet (wenn er schöne Knaben erblickt), ist ein Lügner, und wenn wir ihm glauben könnten, wäre er ein Tier, nicht ein menschliches Wesen.“

 

Vorurteil Nr. 4: „Schwule sind notorisch auf der Suche nach Sex“

Die Angst treibt manchen Jugendlichen vor dem Coming-out um: Wie werden die Freunde reagieren? Werden meine besten Freunde bald glauben, dass ich scharf auf sie bin? Vor allem heterosexuelle Männer scheinen Schwule als Bedrohung wahrzunehmen – auch wenn sie es möglicherweise nicht immer zugeben. Besonders in klassischen Männerdomänen ist diese Angst groß – ein Outing im Fußballverein oder in der Kaserne ist meistens ein großer Schritt.
Das Vorurteil kann aber auch Schwule in gemischteren Gruppen treffen. Der 30jährige Christian aus Hamburg berichtet von einer Klassenfahrt. Zwei Jahre vor dem Abitur hatte sich der damals 16-Jährige gerade geoutet. „Ihr wisst ja, wer mit Christian in einem Raum schläft – immer mit dem Hintern zu Wand“, riet damals sein Lehrer grinsend den Mitschülern, als im Schullandheim die Zimmer verteilt wurden. Kurz nach der Klassenfahrt wechselte Christian die Schule. Sein Beispiel zeigt: Gerade die Unterstellung, Schwule seien stets auf der Suche nach – mehr oder weniger willigen – Sexualpartnern, leistet Mobbing und Diskriminierung Vorschub.

Die Wahrheit ist: Schwule halten im Leben, genau so wie alle anderen Menschen, nach einem Partner Ausschau. Dabei verhalten sie sich ziemlich genau so wie auch heterosexuelle Männer – der eine fordernder, der andere zurückhaltender. Wer als Mann an Männern kein Interesse hat, hat dabei allerdings wenig zu befürchten. Vergewaltigungen durch schwule Männer sind mindestens genau so selten wie Vergewaltigungen durch heterosexuelle – die allermeisten Menschen suchen nach einvernehmlichem Sex. Auch an dem Gerücht, Schwule seien weniger treu, ist übrigens wenig dran, wie der Braunschweiger Psychologe Roland Kirchhof herausfand. Sie halten es mit der Treue ungefähr genau so wie Männer, die mit Frauen zusammenleben. Einziger Unterschied: Schwule Paare entscheiden sich häufiger bewusst für eine „offene“ Beziehung, in der gelegentliche Seitensprünge erlaubt sind.

 

Vorurteil Nr. 5: „Homosexuelle werden in unserer Gesellschaft nicht mehr diskriminiert“

Heute – ganz anders noch als vor etwa 20 Jahren – kennen die meisten Menschen ein paar Schwule und Lesben persönlich. Mit den Outings zahlreicher Prominenter, mit der Einführung von Anti-Diskriminierungsgesetz und „Lebenspartnerschaft“ hat ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden, der es vielen homosexuellen Frauen und Männern leichter macht, öffentlich zu ihrer sexuellen Identität zu stehen. In der Ausbildung, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft sind offene Anfeindungen sehr selten geworden. Gute Gründe, um anzunehmen, dass es bei uns keine Diskriminierung mehr gibt.
 

Die Wahrheit ist: Rein rechtlich betrachtet sind Schwule und Lesben bei uns noch immer nicht völlig gleichgestellt – zum Beispiel können sie nicht gemeinsam mit ihrem Lebenspartner ein Kind adoptieren, anders als etwa in den Niederlanden oder Spanien.

Im Alltag viel bedeutender ist aber für viele Homosexuelle nicht die Rechtslage, sondern die gesellschaftliche Ausnahmestellung, die sie noch immer einnehmen. In der Öffentlichkeit Händchen halten oder sich küssen, davor schrecken viele Schwule und Lesben zurück. Schwule Paare auf den Tanzflächen der durchschnittlichen Mainstream-Diskotheken sind selten. Und was soll Mann antworten, wenn der neue Kollege zum Abendessen einlädt und vorschlägt, man könne seine Partnerin gern mitbringen. „Ja gern, ich komme dann mit meinem Mann“? Oder doch lieber absagen? „Es wäre leichter, wenn die Einladung lauten würde: ‚Bring doch deinen Partner oder deine Partnerin’ mit“, meint der 43-jährige Olaf aus Hamburg, der solche Situationen schon häufiger erlebt hat.
Auch eine andere Erfahrung von Olaf zeigt, wie selbstverständlich viele Menschen davon ausgehen, dass ein Paar immer aus einem Mann und einer Frau besteht – und was geschehen kann, wenn das nicht der Fall ist. Mit seinem Freund hatte Olaf ein Ferienhaus in Italien gebucht. Auf der Suche nach den Handtüchern nahm das Paar kurz nach der Ankunft Kontakt mit dem österreichischen Vermieter auf – und hatte dann innerhalb von zwölf Stunden das Haus wieder zu verlassen, als dem Vermieter klar wurde, dass zwei Männer sein Feriendomizil angemietet hatten. Um solche Erlebnisse von vorn herein zu vermeiden, buchen viele Schwule ihren Urlaub lieber gleich in Hotels und Ferienhäusern, die sich als „gay friendly“ ausweisen. In einer gleichberechtigten Gesellschaft wäre das nicht nötig.

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