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Face-ism: Die Macht des Gesichts

Ins Gesicht geschrieben? Dass die Gesichtszüge eines Menschen nichts über seine Persönlichkeit verraten, ist längst klar. Dennoch lassen wir uns unbewusst oft genau zu dieser Annahme verleiten: Ein Blick ins Gesicht und schon glauben wir beispielsweise zu wissen, ob eine Person kompetent ist oder nicht. Experten bereitet dieses Phänomen zunehmend Unbehagen – kann es in Politik, Wirtschaft und Justiz doch zu folgenreichen Fehleinschätzungen führen.
DAL, 06.07.2017

Dass man aus dem Gesicht auf den Charakter schließen könne, ist eine ebenso alte wie falsche Annahme.

thinkstock.com, Bowie15

Ob am Frühstückstisch, im Büro, beim Einkaufen oder auf dem Fernsehbildschirm: Jeden Tag schauen wir unzähligen Menschen ins Gesicht. Die Fähigkeit, das Antlitz von Mitmenschen wiederzuerkennen und zu unterscheiden ist für unser Sozialverhalten enorm wichtig. Kein Wunder also, dass unser Gehirn eigene Zentren für die Gesichtserkennung besitzt und bestimmte Gesichter in jeweils eigenen Neuronen abgespeichert werden.

Tatsächlich scheinen wir so sehr auf Gesichter fixiert zu sein, dass dieser "Face-ism" sogar unsere Einschätzung von Personen beeinflusst. Dabei geht es nicht nur darum, ob wir jemanden schön finden oder nicht. Stattdessen verbinden wir bestimmte Gesichtszüge auch mit Persönlichkeitsmerkmalen. Dummerweise kann unsere Mimik zwar durchaus ein Indikator unseres Wesens sein, unsere bloßen Gesichtszüge aber sind es keineswegs.

Zahlreiche Studien belegen, dass Politiker nicht nur in den USA auch an ihrer Attraktivität gemessen werden.

Pete Souza / Public Domain

Aussehen als Wahlhelfer

Wissenschaftler warnen längst davor, welche Folgen dieses Phänomen für unser gesellschaftliches Leben hat. So können sich Gesichter beispielsweise auf Wahlentscheidungen oder die Postenvergabe in Unternehmen auswirken. Analysen belegen etwa, dass Manager, die vermeintlich kompetent aussehen, eher auf den Führungspositionen in großen Unternehmen landen – und zwar selbst dann, wenn ihre Leistungen keineswegs besser sind als die ihrer Rivalen mit weniger überzeugenden Gesichtszügen.

Der gleiche Effekt führt dazu, dass ein entschlossen aussehendes Gesicht Politikern mehr Wählerstimmen beschert und dass vor Gericht Angeklagte, die rein äußerlich dem Stereotyp des nicht Vertrauenswürdigen entsprechen, überdurchschnittlich häufig verurteilt werden und ein höheres Strafmaß erhalten.

Geleitet von Vorurteilen

Es sind unter anderem Faktoren wie die Glätte der Haut, die nachweislich darüber mitbestimmen, als wie gesund und attraktiv wir eine Person einschätzen, aber auch wie glaubwürdig und kompetent sie uns erscheint. Diese Zusammenhänge sind unbegründet. Sie haben jedoch die Macht, objektive und logische Bewertungskriterien bei Entscheidungsprozessen zu überdecken. Statt Fakten und Wissen zählt das instinktive Gefühl.

Wie wir ein Gesicht wahrnehmen und bewerten, hängt dabei – wie so oft – von unserem Weltbild ab. Vorurteile und Stereotype tragen entscheidend zu unserer Einschätzung bei. So haben einer US-Studie zufolge weibliche Politiker bei Wahlen schlechtere Chancen, wenn ihr Antlitz maskulin ist. Das gilt allerdings nur bei konservativen Wählern, womöglich weil bei ihnen typische Geschlechter-Rollenbilder weiter verbreitet sind – kurzum: für sie eine Frau weiblich auszusehen hat.

Information hilft gegen Verzerrung

Untersuchungen belegen aber auch, dass das Gehirn Gesichter so verarbeitet, dass sie unseren Vorurteilen besser entsprechen. Das heißt: Wer jungen Männern zum Beispiel grundsätzlich aggressive Eigenschaften zuschreibt, dessen Gehirn reagiert auch auf ein neutrales Männergesicht so, als würde es ein wütendes sehen.

"Vorurteile ändern systematisch die visuelle Verarbeitung von Gesichtern und verzerren damit, was wir sehen – und zwar so, dass das Bild mehr unseren Erwartungen entspricht", erklärt der Neurowissenschaftler Jonathan Freeman von der New York University. Diese visuelle Stereotypisierung trage demnach womöglich sogar dazu bei, die vorhandenen Vorurteile weiter zu verstärken.

Umgekehrt gilt: Wer sich von Klischees und Stereotypen frei macht, ist auch weniger anfällig für den verzerrenden Effekt des "Face-ism". So lassen sich besser informierte Menschen nachweislich weniger vom bloßen Augenschein leiten als solche, deren "Wissen" auf Vorurteilen gründet.

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