wissen.de Spezialseite - Atomenergie in Deutschland
Special

Atomenergie in Deutschland

Kernkraft gestern, heute und morgen

Audio

Atomenergie in Deutschland - vom ersten Kraftwerk zum Ausstieg (Podcast 136)

0:00

Die Zeit der Atomenergie in Deutschland begann 1960 mit dem ersten Kernkraftwerk Deutschlands: Kahl am Main. Jetzt ist der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland beschlossen. Für das Kernkraftwerk Kahl ist die Laufzeit bereits beendet. Die charakteristische gelbe Kuppel des Kraftwerks wurde 2005 beseitigt, der 53 Meter hohe Kamin fiel 2007. Und für die letzten Anlageteile folgte der Abriss im Juli 2010. Wird es allen anderen Atommeilern in Deutschland ähnlich ergehen? Fünfzig Jahre, nachdem das erste Atomkraftwerk ans Netz ging und zehn Jahre nachdem der Bundestag den "Einstieg in den Ausstieg" beschlossen hat, forciert die Bundesregierung nach der Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland.

 

Kahl – Beginn der Atomenergie in Deutschland

 

1960, in der Nähe von Großwelzheim, einem Ortsteil der unterfränkischen Gemeinde Karlstein am Main: Nicht weit vom westlichsten Punkt des Bundeslandes Bayern entfernt wird Geschichte geschrieben. Hier geht das Kernkraftwerk Kahl in Betrieb, das man abgekürzt Kahl am Main nennt und nur durch die Namensgleichheit mit dem hessischen Ort Kahl am Main in Verbindung gebracht werden kann. Die erste Anlage ihrer Art in der Bundesrepublik produziert eine Energieleistung von 15 Megawatt. Zum Vergleich: Auf 15 Megawatt bringen es heute große Windenergieanlagen. Und das größte Atomkraftwerk Deutschlands im schwäbischen Gundremmingen betreibt seit 1984 zwei Siedewasserreaktoren mit einer Leistung von jeweils 1344 Megawatt, die jährlich rund 21 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen.

 

Die Anfänge

 

Ab Mitte 1961 wird in Kahl erstmals Strom ins Netz eingespeist. Damit hat die Bundesrepublik einen Schritt vollzogen, der sich bereits seit Jahren in der Vorbereitung befand. Schon 1955 wurde ein Bundesministerium für Atomfragen geschaffen, das die friedliche Nutzung der Atomenergie in Deutschland vorantreiben sollte; das Kraftwerk Kahl war das erste Ergebnis dieser Bemühungen.

Der Behörde stand Franz-Josef Strauss vor, er war Deutschlands erster "Atomminister". Doch was heute wie eine Beschimpfung klingt, hatte damals einen größtenteils positiven Klang. Es gab zwar auch Proteste gegen die zivile Nutzung der Kernenergie, doch fanden diese meist im lokalen Rahmen statt. Von einer "Bewegung" im heutigen Sinne konnte noch lange keine Rede sein. Kernenergie galt bei nicht wenigen als sauber, modern und umweltfreundlich.

Zu Beginn der 1970er Jahre änderten sich jedoch die Vorzeichen. Die Bürger betroffener Gemeinden begannen, sich stärker zu organisieren und zu vernetzen. Dicht an der Grenze zu Frankreich, in Breisach am Rhein, kam es zu Protesten. Märsche, Kundgebungen und nicht zuletzt rund 65.000 Einsprüche sorgten dafür, dass eine geplante Anlage ins nahe Wyhl am Kaiserstuhl verlagert wurde. Doch hier erwies sich der Widerstrand als so stark, dass das Kraftwerk aufgegeben werde musste – Chronisten sprechen bis heute von einem "Wendepunkt der Anti-Atombewegung". Ob Endlagerung oder Wiederaufbereitungsanlage, die Aktionen rissen nicht ab, wobei sich insbesondere Brokdorf, Gorleben, Krümmel und Wackersdorf zu Symbolen entwickelten. 1979 kommt es zu einem Unfall im US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg. Im Herbst demonstrierten über 100.000 Menschen in Bonn gegen die Nutzung der Kernenergie. Es war die größte Demonstration zum Thema "Atomkraft, nein danke". Und sie fand keine zwei Jahrzehnte nach dem Zeitpunkt statt, an dem das erste deutsche AKW ans Netz gegangen war. Auch das gehört zur Geschichte von Kahl dazu.

 

Einstieg in den Ausstieg – und retour

 

Doch während die Inbetriebnahme von Kahl fünf Jahrzehnte her ist, hat der "Einstieg in den Ausstieg" eine jüngere Geschichte. In den beginnenden 1980er Jahren wurde die Friedensbewegung in der Öffentlichkeit viel stärker wahrgenommen als die Proteste gegen die zivile Nutzung der Kernkraft.
Tschernobyl im Oktober 1986

Dies änderte sich 1986, als es in Tschernobyl zum Super-GAU kam – zum größten anzunehmenden Unfall. Die Katastrophe, bei der erhebliche Mengen an Radioaktivität freigesetzt wurden, erinnerte an die Risiken dieser Form der Energiegewinnung. Langzeitfolgen, die Gefahr der Kernschmelze und die Problematik der Endlagerung gerieten wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Unterdessen hatte sich 1980 eine Partei gegründet, die ökologische Aspekte zu einem ihrer Hauptanliegen machte: Die Grünen. Aber niemand konnte absehen, dass es eines Tages tatsächlich gelingen sollte, den "Einstieg in den Ausstieg" einzuleiten. Doch 1998 kam es zu einem ersten rot-grünen Regierungsbündnis unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Zwischen den Koalitionspartnern wurde vereinbart, dass sich die Bundesrepublik mittelfristig von der Kernenergie trennen sollte – hierzu wurde mit der Industrie zu Anfang des Jahrtausends der sogenannte "Atomkonsens" vereinbart. Demnach sollten keine neuen Kraftwerke mehr gebaut werden und die Laufzeiten der bisherigen Anlagen wurden begrenzt. Es war vom "Einstieg in den Ausstieg" die Rede. Am 14. Dezember 2001 wurde das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung vom Bundestag verabschiedet

Doch die spätere schwarz-gelbe Bundesregierung machte diese Regelung wieder rückgängig. 2010 wurde eine "Laufzeitverlängerung" beschlossen, die den Kraftwerksbetreibern im Durchschnitt zwölf zusätzliche Jahre für ihre Kraftwerke einräumt. Allerdings gab es zwei Bedingungen. Zum einen muss eine jährliche Brennelementesteuer bezahlt werden, zum anderen wird ein regelmäßiger Sonderbeitrag fällig. Dieser geht in einen Fonds zur Förderung erneuerbarer Energien. Hierin ist mehr als ein Zugeständnis an Atomkraftgegner zu sehen, denn die regenerativen Quellen befinden sich auch wirtschaftlich auf dem Vormarsch. Ob Sonne, Wind oder Wasser, die Kräfte der Natur lassen sich immer effektiver zur Stromgewinnung nutzen. Tatsächlich sind die entsprechenden Investitionen allein zwischen 2005 und 2009 um 230 Prozent angestiegen. Im Jahr 2010 lag der aus erneuerbaren Energien gedeckte bundesdeutsche Endenergieverbrauch bei 11,0 Prozent des Gesamtbedarfs. Der US-Chemie-Nobelpreisträger Walter Kohn prognostizierte 2006: "Schon in zwei bis drei Jahrzehnten wird voraussichtlich Solarenergie 25 Prozent des gesamten Energiebedarfs abdecken." Kein Wunder also, wenn sich auch die großen Energieriesen wie RWE, EnBW, e.on und Vattenfall für diese Techniken interessieren. Der Ausstiegswillen aus den Jahren 2000 bis 2010 meldet sich zurück.

 

Die Kehrtwende: Fukushima und die Folgen

 

Am 11. März 2011 begann dann – ausgelöst durch ein Erdbeben – eine Serie beispielloser Unfälle im japanischen Atomkraftwerk Fukushima I. Vier von sechs Reaktorblöcken wurden durch Explosionen und Brände zerstört. Es kam zu Kernschmelzen und einer beträchtlichen radioaktiven Kontamination der Umgebung. Zwischen 100.000 und 150.000 Einwohner mussten ihre Wohnungen, Häuser und Höfe verlassen. Drei Tage später verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein vorläufiges Moratorium für die Laufzeitverlängerung der Kraftwerke in Deutschland. Die Maßnahme wurde für drei Monate ausgesetzt, um die Sicherheitsstandards der Anlagen neu zu prüfen. Außerdem gingen die ältesten Atomanlagen vorläufig vom Netz. Das Kraftwerk Neckarwestheim wurde ganz abgeschaltet. Kommt nun also doch der Ausstieg?


Als 1960 das Kernkraftwerk Kahl seinen Betrieb aufnahm, konnte niemand ahnen, dass die Anlage im November 1985 stillgelegt werden würde. 1988 begannen die ersten Rückbauarbeiten, Mitte 2010 kam es zu den letzten Abrissen. Damit ist Kahl Geschichte. Ob es den anderen Anlagen in Deutschland genauso geht, bleibt natürlich offen; niemand kann sagen, wann das letzte AKW abgeschaltet wird. Aber es mag tatsächlich so sein, dass die Atomenergie in Deutschland ein Auslaufmodell ist.

 

Kai U. Jürgens, wissen.de-Redaktion
 

Mehr Artikel zu diesem Thema

Weitere Lexikon Artikel

Weitere Artikel aus der Wissensbibliothek

Weitere Artikel aus dem Wahrig Synonymwörterbuch

Weitere Artikel aus dem Wahrig Fremdwörterlexikon

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch

Weitere Artikel aus dem Vornamenlexikon