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Der 9. November - ein deutscher Schicksalsstag? (Podcast 21)

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Es ist wohl eine Laune der Historie, dass der 9. November vier prägnante Ereignisse deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts verkörpert. Gerade die symbolträchtige Gegensätzlichkeit der Ereignisse wirft einige Fragen auf: Wie kann er angemessen begangen werden? Wie kann am selben Tag die Euphorie des Mauerfalls beschworen und zugleich der Verbrechen der NS-Zeit würdig gedacht werden? Wie ist zu verhindern, dass eines der vier Ereignisse die Anderen verdrängt?
 

Nach der Vereinigung wurde in Deutschland heftig debattiert, ob der 9. November als Nationalfeiertag geeigneter ist als der 3. Oktober. Eines der Hauptargumente für den 9. November war die besondere emotionale Ausstrahlung dieses Schicksalstages, die in krassem Gegensatz steht zu einem “künstlich-bürokratischen, aufoktroyierten” Tag der deutschen Einheit. Außerdem sei eine Verbindung des Jubeltags Mauerfall mit Hitlerputsch und Reichspogromnacht kein unüberwindliches Hindernis, sondern sie mache vielmehr die spezielle ethische Kraft des Tages aus. Freudiges Erinnern an demokratische “Revolutionen” könne und müsse verzahnt werden mit stillem Mahnen und Gedenken. Gegner der Idee des November-Nationalfeiertages hielten es für unmöglich, ja geradezu ignorant, einen Feiertag zu institutionalisieren, der mit derart negativen Ereignissen belastet ist. Hitlers Marsch auf die Feldherrenhallt und die Gewalt gegen Juden dürften keinesfalls mit Jubelfeiern verbunden oder gar durch Euphorie über den Mauerfall ins Abseits gedrängt werden.
 

1918: Novemberrevolution und die Ausrufung der Republik
 

1918 kam es in Deutschland angesichts der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu einer Revolutionsbewegung, die am 29. Oktober mit der Meuterei der Matrosen der Kieler Hochseeflotte in Kiel begann. Die Unruhen breiteten sich rasch aus - reichsweit wurden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Der Ruf nach Abdankung von Kaiser Wilhelm II. und sofortigem Frieden wurde immer lauter. Am 9. November, als die Aufstandsbewegung Berlin erreichte, verkündete Reichskanzler Max von Baden angesichts der rebellierenden Massen eigenmächtig den Thronverzicht des Kaisers und übergab seine eigene Amtsgewalt an den Mehrheitssozialisten Friedrich Ebert. Um 14 Uhr rief dessen Parteifreund Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags die parlamentarische Republik aus. Kurz darauf verkündete Spartakistenführer Karl Liebknecht vor dem Schloss die “Freie sozialistische Republik”, der allerdings keine Dauer beschieden war. Nach der Wahl der Nationalversammlung im Januar des Folgejahres konnte die Novemberrevolution mit der Bildung der Reichsregierung schließlich abgeschlossen werden: Das Deutsche Reich wurde zur parlamentarischen Republik. Wir hören Philip Scheidmann, der sich an die Balkonszene erinnert.
 

1923: Hitler und die “Nationale Revolution”
 

Der von Adolf Hitler und Reichswehrgeneral Erich Ludendorff angezettelte Versuch, eine Initialzündung für eine “Nationale Revolution” zu geben, scheiterte am 9. November 1923 vor der Münchner Feldherrenhalle. Hitlers Demonstrationszug wurde von bayrischer Landespolizei mit Schüssen auseinandergetrieben. Der Hitler-Putsch hatte darauf abgezielt, die Macht in Bayern zu erringen. Mit einem “Marsch auf Berlin” sollte dann, so der Plan, die Regierung Stresemann gestürzt werden. Die Aktion wurde jedoch für die NSDAP zum Debakel: 14 Anhänger wurden getötet, Hitler wurde zu Festungshaft verurteilt, seine Partei verboten. Der Propagandaerfolg war jedoch enorm, der Siegeszug der Nationalsozialisten nicht aufzuhalten.
 

1938: Novemberpogrome - in Deutschland brennen Synagogen
 

1938 wurde in Deutschland systematisch die Politik der Arisierung verschärft. Ende Oktober verfügte die Reichsregierung die Ausweisung aller polnischstämmigen Juden. Als der 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan, dessen Angehörige davon betroffen waren, daraufhin am 7. November den Pariser Legationssekretär Ernst von Rath ermordete, nahmen die Nationalsozialisten die Verzweiflungstat zum Anlass für langgeplante antijüdische Aktionen. In Absprache mit Hitler rief Propagandaminister Joseph Goebbels zur Vergeltung auf. Am 9./10. November kam es zu vermeintlich “spontanen” Gewaltaktionen: 267 Synagogen gingen in Flammen auf, zahlreiche Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört, viele jüdische Gemeindehäuser und Friedhöfe vernichtet. Juden wurden misshandelt und gedemütigt, 91 sogar ermordet. Über 25 000 Juden wurden verhaftet und in KZs verschleppt. Dieses Novemberpogrom wurde von den Nazis auch beschönigend als "Kristallnacht" bezeichnet. Der als "Verwüstung" bzw. "Verheerung" übersetzte Begriff "Pogrom" benannte die Gewaltsamkeit gegen Juden in Russland Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch im deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff "Pogrom" meist nur für Gewalttaten gegen Juden bzw. für die Judenverfolgung selbst verwendet.
 

1989: Fall der Berliner Mauer: Die friedliche Revolution
 

Berlin versinkt im Freudentaumel - am Abend des 9. November 1989 fällt das Symbol der Trennung, die Berliner Mauer, auf dieselbe Art, wie sie 1961 gekommen war: nachts und unerwartet. Zehntausende von Ostberlinern strömen in den Westen der Stadt; vor dem Brandenburger Tor kommt es zu spontanen Jubelfeiern. Der Untergang der DDR ist nicht mehr aufzuhalten. Nachdem bereits seit dem Frühjahr Flüchtlingsströme und Massenproteste das Regime erschüttert hatten, war der Druck der Bevölkerung auch durch Reiseerleichterungen und ein neues Reisegesetz vom 6.11. nicht abzubauen. Die DDR-Spitze reagierte hilflos und konfus: Politbüromitglied Günther Schabowski verkündete am 9. November, es gebe eine neue Regelung, die direkte Reisen in die BRD erlaube. Die Frage, wann diese in Kraft trete, beantwortete er mit “sofort” und setzte so - offenbar ungeplant - eine Dynamik in Gang, die nicht mehr zu stoppen war.

 

Jörg Peter Urbach, wissen.de-Redaktion

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