Audio

„Einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein!“

0:00

„Ich sehe, wie die Welt langsam mehr und mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre immer stärker den anrollenden Donner, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit, und doch, wenn ich nach dem Himmel sehe, denke ich, dass alles sich wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte ein Ende haben muss.“ Anne Frank schreibt diese Worte am 15. Juli 1944 – nur wenige Tage, bevor die Gestapo ihr Versteck in einem Amsterdamer Hinterhaus entdecken und die ganze Familie ins KZ deportieren würde. Die verzweifelte Hoffnung der Jugendlichen auf ein Ende des Nazi-Terrors gegen die Juden sollte sich nicht mehr erfüllen. Anne Frank stirbt ein halbes Jahr später, im März 1945, im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Typhus. Sie ist 15.

Es ist ihr Tagebuch, das Anne Frank davor bewahrte, zu einem weiteren der namenlosen und aus der Erinnerung getilgten Opfer der Nationalsozialisten zu werden. Das „Tagebuch der Anne Frank“ lässt das Leben und den Tod des Mädchens unvergessen bleiben.

 

Die Franks - eine deutsche Familie jüdischen Glaubens

„Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, den ich je getroffen habe, heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich.“

Als im Sommer 1929 Annelies Marie Frank auf die Welt kommt, können ihre Eltern, das deutsche Ehepaar Otto Frank und Edith Frank-Holländer, noch nicht ahnen, dass die Familie nur wenige Jahre später die Heimat verlassen muss. Welche Auswüchse der nationalsozialistische Antisemitismus annehmen würde, ist für die liberalen Juden, deren Vorfahren schon vor Jahrhunderten nach Deutschland gekommen waren, schlicht unvorstellbar. Schließlich garantierte die Weimarer Verfassung allen deutschen Staatsbürgern die Gleichheit vor dem Gesetz. Und auch die faschistische NSDAP stellte noch keine akute Bedrohung dar: Bei den Reichstagswahlen von 1928 waren die Nazis auf gerade einmal 2,6 Prozent gekommen.

 

Die Flucht nach Amsterdam

Erst 1933 erkennt Otto Frank, dass sich seine Familie nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland in Lebensgefahr befindet: Reichskanzler Adolf Hitler hat die Weimarer Verfassung faktisch außer Kraft gesetzt, Ausnahmegesetze gegen „Nichtarier“ werden erlassen, die Demokratie wandelt sich zur Diktatur. Die Franks emigrieren nach Amsterdam. Anne und ihre Schwester Margot gehen hier zur Schule und lernen schnell Niederländisch. Doch entkommen sind die Franks den Nazis nicht. 1940 marschieren deutsche Truppen in den Niederlanden ein und stellen das Land unter deutsche Zivilverwaltung. Anne schreibt: „Ab Mai 1940 ging es bergab mit den guten Zeiten: erst der Krieg, dann die Kapitulation, der Einmarsch der Deutschen, und das Elend für uns Juden begann.“

Seit April 1942 muss auch Anne den Judenstern tragen - und die Schule wechseln. Jüdische Kinder dürfen nur noch jüdische Schulen besuchen. Dennoch bleibt sie ein fröhliches, vorwitziges Mädchen. Erst einmal.

 

Das Tagebuch

"Herr Keesing, der alte Mathematiklehrer, war eine Zeit lang sehr böse auf mich, weil ich so viel schwätzte. Eine Ermahnung folgte der anderen, bis ich eine Strafarbeit bekam. Ich sollte einen Aufsatz über das Thema "Eine Schwatzliese" schreiben. Eine Schwatzliese, was kann man darüber schreiben? Ich dachte und dachte, und dann hatte ich plötzlich eine Idee. Ich schrieb die drei aufgegebenen Seiten und war zufrieden. Als Argument hatte ich angeführt, dass Reden weiblich sei, dass ich ja mein Bestes täte, mich zu bessern, aber ganz abgewöhnen könnte ich es mir wohl nie, da meine Mutter genauso viel redete wie ich, wenn nicht mehr, und dass an ererbten Eigenschaften nun mal wenig zu machen ist."

Zu ihrem 13. Geburtstag, am 12. Juni 1942, schenken Annes Eltern ihr ein Tagebuch. Es ist ihr schönstes Geschenk. Das Mädchen denkt sich als Adressatin für ihre Einträge eine beste Freundin aus: Kitty. Anne schreibt noch am selben Tag: „Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, (...) und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“

 

Das Versteck

All die Gedanken, Ängste und Wünsche, die die Jugendliche ihrem Tagebuch anvertrauen würde, sollten der Welt Jahre nach dem Tod Anne Franks einen erschütternden Einblick verschaffen in das Seelenleben eines verfolgten, in ständiger Angst vor Entdeckung lebenden Mädchens, das sich in der Isolation und Enge eines kleinen Hinterhauses einrichten muss. Am 5. Juli 1942 tauchen die Franks unter. Annes Schwester Margot hatte den befürchteten Aufruf zum „Arbeitsdienst in Deutschland“ erhalten. Zwei Jahre harren die Franks und vier weitere Personen in ihrem 50-Quadratmeter-Versteck aus. Tagsüber dürfen die Untergetauchten nur flüstern und weder den Wasserhahn aufdrehen noch die Toilette benutzen. Versorgt werden sie von treuen holländischen Freunden. Mit Essen - und mit immer neuen Schreckensmeldungen.

"Liebe Kitty! Mittwoch, 13. Januar I943

Heute sind wir wieder alle ganz verstört, und man kann nicht ruhig sein oder arbeiten. Draußen ist es schrecklich. Tag und Nacht werden die armen Menschen weggeschleppt und dürfen nichts mitnehmen als einen Rucksack und etwas Geld (dieser Besitz wird ihnen dann später auch noch abgenommen). DieFamilien werden auseinander gerissen, Männer, Frauen und Kinder. Es kommt vor, dass Kinder, die von der Schule nach Hause kommen, ihre Eltern nicht mehr vorfinden, oder dass Frauen, die Besorgungen gemacht haben, bei der Rückkehr vor der versiegelten Wohnung stehen, die Familie ist inzwischen weggeführt. In christlichen Kreisen ist auch schon große Unruhe, weil die jungen Leute, die Söhne, nach Deutschland verschickt werden. Jeder ist in Sorge!"

 

Das Ende

Anne Frank wandelt sich in ihrem Versteck von einem „netten, witzigen, aber oberflächlichen Mädchen, das ein Götterleben führte“- wie sie in ihrem Tagebuch schreibt - zu einer ernsthaften jungen Frauen, die sich weigert, die Hoffnung auf ein Leben nach den Nazis aufzugeben. Ein Leben danach sollte Anne Frank jedoch nicht vergönnt sein. Die Familie ist verraten worden. Am 1. August schreibt sie zum letzten Mal an ihre Kitty:

"Es ist ein Wunder, dass ich all meine Hoffnungen noch nicht aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unerfüllbar. Doch ich halte daran fest, trotz allem, weil ich noch stets an das Gute im Menschen glaube. Es ist mir nun einmal nicht möglich, alles auf der Basis von Tod, Elend und Verwirrung aufzubauen."

 

Ein Beitrag von Susanne Dreisbach.

Mehr Artikel zu diesem Thema

Weitere Lexikon Artikel

Weitere Artikel aus dem Wahrig Synonymwörterbuch

Weitere Artikel aus dem Wahrig Fremdwörterlexikon

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch

Weitere Artikel aus dem Vornamenlexikon