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Nur was sich ändert, bleibt bestehen: Das Grundgesetz (Podcast 205)

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In Deutschland wurde unser Leben über vier Jahrzehnte von einem Provisorium bestimmt. ‚Provisorium’, das ist ein anderes Wort für ‚Übergangslösung’ – und wer, fragt man sich zu Recht, knüpft sein Leben schon gerne an eine Übergangslösung? Das deutsche Volk tat genau das über 40 Jahre lang mit dem Grundgesetz.

Als 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, war es als ein solches Provisorium gedacht. In der Präambel wurde festgelegt, dass diese vorläufige Verfassung bis zur Einigung mit der DDR als juristische Grundlage gelten soll. Und doch gibt das Grundgesetz bis heute die Basis unseres Systems vor: Deutschland als föderale Demokratie, als Rechts- und als Sozialstaat. Und genau an diese Rahmenbedingungen ist unser Leben geknüpft.

 

Lebendige Verfassung

Auch wenn immer wieder aktuelle Themen wie das Meldegesetz oder der Euro-Rettungsschirm für heiße Diskussionen sorgen: das Grundgesetz bleibt als Basis stabil. Trotz aller Kritik gab es in Deutschland bis heute keine schwere Verfassungskrise. (Anders als zum Beispiel in Kiew, wo 2007 in der Folge einer solchen Krise des Systems das ukrainische Parlament sogar aufgelöst wurde.)
Das Grundgesetz schafft eine Balance zwischen den elementaren Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders und den unantastbaren Rechten des Einzelnen.
Deswegen unterstehen die Gesetze in den Bereichen ‚Verteidigung’, ‚Organisation des Staates’ sowie ‚Bürger- und Familienrecht’ immer wieder einer genauen Prüfung.
Daran geknüpft sind Veränderungen und Anpassungen der Gesetzestexte. Im Laufe seines Bestehens wurde das Grundgesetz knapp 60-mal geändert. Viele dieser Änderungen sind Reaktionen auf soziale und politische Neuerungen innerhalb der Gesellschaft. Somit erweist sich das Grundgesetzt als lebendiger Spiegel der Zeit.

 

Die 50er und 60er Jahre

Erstmalig in das Grundgesetz eingegriffen wurde 1956: Der damalige Kanzler Konrad Adenauer führt die so genannte Wehrpflicht ein. Dies war eine Reaktion auf die zunehmende Bedrohung seitens der Sowjetunion. Denn – so argumentierte Adenauer – im Zweifelsfall müsse die Bundesrepublik Deutschland sich verteidigen können. Das Volk nahm diese Entscheidung negativ auf – zu nah waren bei vielen die Erinnerungen an den 2. Weltkrieg. Doch um den Staat zu schützen, wurden von da an alle Männer, die nach dem 1. Juli 1939 geboren worden waren, zum Dienst an der Waffe für Deutschland verpflichtet. Bis dahin kannte das Gesetz keine Armee und keinen Wehrdienst, sondern nur die Kriegsdienstverweigerung. Somit kam es zu der ersten Grundgesetzänderung, die die Wehrpflicht und den Ersatzdienst im Artikel 12a verankerte. Die Wehrverfassung zählt bis heute zu den wichtigsten Entscheidungen in der Geschichte des westdeutschen Nachkriegsdeutschlands.

Eine weitere historische Verordnung trat 1968 in Kraft: das Notstandsgesetz. Die stark umstrittene Novelle wurde mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit des Parlaments verabschiedet. Im Verteidigungsfall oder bei Katastrophen sowie Unruhen, die zu einer „Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ führen könnten, war es in der Folge nun möglich, einen Bundeswehreinsatz auch im Inland zu erlauben. So wurde legitimiert, dass der Staat „im Notfall“ Gesetze einschränkt, um in der Krise seine Handlungsfähigkeit zu sichern. Eine derartige Formel war bis dahin nicht im Grundgesetz vorgesehen. Der Grund: Anders als in der Weimarer Republik sollte nicht zu viel Macht auf die Regierung übergehen. Genau das befürchteten die zahlreichen Gegner, die ihren Protest mit dem sogenannten Sternmarsch in Bonn am 11. Mai 1968 offen bekundeten. Das Notstandgesetz hatte eine hohe Symbolkraft, weil man dadurch einen Übergriff auf die „68-er“ selbst befürchtete. Dies geschah jedoch nie.

 

Das Private ist das Politische

„Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ging die sozialliberale Regierungskoalition unter Helmut Schmidt 1976 insbesondere mit der Reform des Ehe- und Scheidungsgesetzes an. Im Mittelpunkt stand die Diskussion um Unterhaltszahlungen. Das einstige ‚Verschuldensprinzip’ wurde verworfen. Es besagte: Derjenige, der am Scheitern der Ehe maßgeblich Schuld hatte, musst die Unterhaltszahlungen leisten.
Stattdessen gilt nun das ‚Zerrüttungsprinzip’, demzufolge der wirtschaftlich stärkere Partner diese Zahlungen zu leisten hat. In dem Zuge des Ehescheidungsgesetztes wurde zwar kein Gesetz geändert. Der Prozess zeigt jedoch, dass „die Exekutive ohne Mitwirken des Bundesverfassungsgerichts ein Gesetz den Grundrechten anpasst“, (so das Bundesamt für politische Bildung.)

 

Zeithistorisches Gepräge

Durch die Präambel wurde schon bei ihrer Einführung im Grundgesetz der Wille zur deutschen Wiedervereinigung besiegelt. Doch erst 1990 kam es zum Beitritt der DDR zur BRD. Wie aber sollte nun mit dem Grundgesetz verfahren werden? Der Artikel 146 eröffnete die Möglichkeit, eine ganz neue Verfassung für beide Völker zu erarbeiten. Doch die Volkskammer der DDR beschloss, sich gemäß Artikel 23 dem westdeutschen Grundgesetz anzuschließen und den Geltungsbereich zu erweitern. Damit war dieser Artikel hinfällig und Artikel 146 wurde um den Satz ergänzt, dass diese Verfassung „nach der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk“ gelte. Der Auftrag aus der Präambel wurde damit erfüllt. Aus dem einstigen Provisorium wurde mit der Wiedervereinigung eine endgültige gesamtdeutsche Verfassung.

Wenige Jahre später manifestierte sich in der deutschen Gesetzgebung erneut Realgeschichte. In den 1980er und 1990er Jahren war Deutschland das Hauptaufnahmeland für Flüchtlinge innerhalb der EU. Neben den Zuwanderungen durch Familienmitglieder der Gastarbeiter und Deutsche aus dem ehemaligen Ostblock kamen die meisten Asylanträge von Betroffenen der Jugoslawienkriege. In dieser Zeit wurde der Verdacht des Asylmissbrauchs laut und die Regierung Helmut Kohls reagierte mit regulierenden Maßnahmen darauf: dem „Asylkompromiss“. Das neue Asylrecht sah vor, Anträgen von Einreisenden aus sicheren Drittstaaten nicht mehr stattzugeben. Zu diesen Ländern gehören unter anderem Norwegen und Serbien. Darüber hinaus sollten keine Flüchtlinge aufgenommen werden, in deren Ländern keine politische Verfolgung stattfindet.
In Folge der Neuregelung des Asylrechts wurde Artikel 16 des Grundgesetzes, „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, ersetzt und in dem neuen Artikel 16a um diese Einschränkungen ergänzt.

 

Der Zuständigkeit halber

Auch innenpolitisch wurde das Grundgesetz in den Jahren seiner Existenz mehrmals angepasst. 2006 legte die Föderalismusreform die Zuständigkeiten und Wirkungsbereiche der Länder und des Bundes neu fest. Dies war eine Reaktion auf die gestiegenen Zentralisierungstendenzen des Bundes, wegen denen die Länder ihre Eigenständigkeit einschränken mussten. Mit der Föderalismusreform bekamen die Länder mehr Mitspracherecht an den Entscheidungen des Bundes und mehr Eigenverantwortlichkeit. Eine zweite Föderalismusreform folgte 2009. Bei dieser standen die finanziellen Beziehungen der Länder untereinander im Fokus.

Mit bisher mehr als 60 Änderungen und Erweiterungen erweist sich das deutsche Grundgesetz als sehr lebendig. Nicht umsonst hat es eine Zusammenführung zweier Staaten und diverse zeithistorische Herausforderungen überstanden. Das Grundgesetz steht im Zeichen der Balance zwischen Gesellschaft und dem Einzelnen – und versucht stets beide Seite miteinander in Einklang zu bringen. Der Erfolg spiegelt sich in den Umfragen des renommierten Umfrageinstituts Infratest dimap wider, laut denen zwei Drittel aller Deutschen mit dem Grundgesetz sehr zufrieden und sogar stolz darauf sind. Diese Prämisse und die Offenheit für Veränderung machen das Grundgesetz zu einer stabilen, bewährten Verfassung, die wahrscheinlich noch in weitere 60 Jahre die Rahmenbedingungen im Spannungsfeld zwischen Mensch und Justiz festlegen wird.
 

Denise Carstensen, wissen.de
 

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