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"Wir sind bei euch, seid mit uns!" - der "Prager Frühling" (Podcast 9)

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Tschechoslowakei, im April 1968. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei verabschiedet in Prag ein Aktionsprogramm. Neben der Weiterführung der Reformpolitik sieht es die Gewährung wichtiger Bürgerrechte wie der Meinungs-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit vor.
Die Veränderungen im politischen Klima der Tschechoslowakei seit dem Amtsantritt von Parteichef Alexander Dubček finden in dem Dokument unübersehbar ihren auch offiziell gutgeheißenen Ausdruck. Das Aktionsprogramm zielt auf den eigenständigen Ausbau einer sozialistischen Demokratie in der ČSSR. Die Relativierung der führenden Rolle der Partei und das konsequente Hinarbeiten auf eine Trennung von Staat und Partei wecken prompt das Misstrauen der Sowjetunion, der DDR und Polens, die ein Übergreifen der Liberalisierung befürchten.
Nach abwartender Skepsis ist die Bevölkerung der ČSSR mit der Verabschiedung des Aktionsprogramms nun von dem Reformwillen der KP-Führung überzeugt. Der vorsichtige Reformer Dubček wird nach 20-jähriger Parteidiktatur plötzlich von ungeahnter Reformbegeisterung der Menschen getragen, die sich zu einer Volksbewegung ausweitet. In Prag hat darum nicht nur meteorologisch der Frühling begonnen. Nach Jahren der Unterdrückung erwacht in den Menschen der Glaube, für die Politik eine Bedeutung zu haben.
 

Die Reformer geraten unter Druck
 

Juli 1968. Die Liberalisierungstendenzen in der ČSSR sind Gegenstand von Gesprächen führender Politiker der UdSSR und der ČSSR. Zum Abschluss der Konsultationen einigen sich beide Seiten am 1. August auf die Einberufung einer Konferenz der Ostblockführer für den 3. August nach Bratislava. Die Bevölkerung der ČSSR nimmt das Ergebnis mit Erleichterung auf. Die Gefahr einer militärischen Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten scheint damit abgewendet zu sein. Am 20. Juni waren etwa 16 000 Rotarmisten sowie Stabseinheiten aus Polen und der DDR zu Manövern in Westböhmen eingerückt.
Außerdem hatte es seit mehreren Wochen im Ostblock eine Pressekampagne gegen den Reformkurs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei gegeben. Besonders scharf verurteilte die »Prawda«, das Zentralorgan der KPdSU, am 11. Juli das sog. »Manifest der 2000 Worte« in dem sich ČSSR-Intellektuelle für eine Beschleunigung der Reformen eingesetzt hatten. Etwa 100 000 ČSSR-Bürger forderten daraufhin von Parteichef Alexander Dubček am 26. Juli in einem Aufruf, den »Prager Frühling« gegen Repressionen durch die anderen Ostblockländer zu verteidigen.
 

Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten
 

20. August 1968 - Auf ein angebliches Hilfeersuchen führender tschechoslowakischer Politiker überschreiten Truppen des Warschauer Paktes in einer geschätzten Gesamtstärke zwischen 200 000 und 650 000 Mann gleichzeitig die Grenzen zur ČSSR. Sowjetische Panzer besetzen strategisch wichtige Punkte der Hauptstadt. Radio Prag meldet die Invasion. In den frühen Morgenstunden des 21. August protestiert eine erregte Menschenmenge vor dem ZK-Gebäude. Soldaten töten mehrere Personen durch Schüsse und sowjetische Truppen eröffnen das Feuer auf Demonstranten, die vor dem Gebäude von Radio Prag versammelt sind. Alexander Dubček und weitere Reformer werden in Prag von den Besatzern verhaftet. Damit nimmt der sog. Prager Frühling, das Experiment eines Sozialismus mit liberalen Zügen, ein gewaltsames Ende. 94 Bürger der ČSSR haben ihr Leben gelassen.
 

„Ideen gegen Armeen“
 

23. August - Ein landesweiter einstündiger Generalstreik ist die spektakulärste Widerstandsaktion in der ČSSR gegen den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts. Während von 12 bis 13 Uhr die Sirenen heulen, ruht die Arbeit fast völlig. Nur in wenigen Fällen kommt es zu Auseinandersetzungen mit den Besatzern. Die Invasionstruppen stoßen auf einhellige Ablehnung und passiven Widerstand der Bevölkerung. Einem Aufruf der Staats- und Parteiführung folgend verzichten die Tschechoslowaken weitgehend auf gewaltsame Aktionen und bringen ihre Ablehnung unter dem Motto »Ideen gegen Armeen« zum Ausdruck. In Diskussionen erklären sie den Besatzungssoldaten, dass die ČSSR keineswegs von der vermeintlichen Konterrevolution beherrscht werde. Mit Hupen, Glockenläuten, Pfeifen und Trommeln übertönen sie Lautsprecherdurchsagen; sowjetische Panzer werden mit verfremdeten Hakenkreuzen aus Hammer und Sichel bemalt. Die Unterkunft und jegliche Verpflegung für die Soldaten wird verweigert. Mindestens zehn mobile Geheimsender versorgen die Bevölkerung mit Nachrichten. Um den Besatzern die Orientierung zu erschweren, werden im ganzen Land Wegweiser und Straßenschilder demontiert oder mit Aufschriften wie »Moskau« und »Berlin« übermalt, die den ungebetenen Gästen den Weg in die Heimat weisen sollen.
 

Das Diktat
 

26. August - Das in die UdSSR verschleppte Politbüro der tschechoslowakischen KP muss die Rücknahme der Reformen im „Moskauer Protokoll“ zusichern. Die UdSSR stellt als Gegenleistung nach Erfüllung der Bedingungen einen schrittweisen Abzug der Besatzungsstreitmacht in Aussicht und verzichtet darauf, eine neue Staats- und Parteiführung in der Tschechoslowakei einzusetzen. Die maßgebenden Reformpolitiker werden in der Folgezeit dennoch entmachtet und teilweise auch inhaftiert. In öffentlichen Erklärungen nach der Rückkehr deutet Dubček der tschechoslowakischen Bevölkerung an, dass man sich dem Moskauer Diktat lediglich unter dem Zwang der Verhältnisse gebeugt habe.
 

Jörg Peter Urbach, wissen.de-Redaktion

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