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Zu Fuß über die Alpen (Teil 1, Podcast 10)

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Tag 1 – von Oberstdorf bis zur Kemptner Hütte 13 Kilometer

 

Es war unser erster Urlaub seit zwei Jahren. Und was für einer. Eine Alpenüberquerung hatten wir uns vorgenommen – natürlich nicht mit dem Auto, oder mit dem Fahrrad, sondern zu Fuß. Über den Europäischen Fernwanderweg E 5. Acht Tage, an denen es mit uns immer wieder auf- und ab ging, an denen wir Sonne, Wind, Regen und Hagel unmittelbar ausgesetzt waren, an denen wir Wanderfreundschaften schlossen – und an denen jeder von uns zumindest einmal an seine Grenzen stoßen sollte. Doch der Reihe nach.
Der erste Tag beginnt in Oberstdorf. Den ersten Anstieg in Richtung Kemptner Hütte gehen wir forsch an. Vielleicht zu forsch. Denn nach zwei Stunden sind wir schweißgebadet. Da kommt eine Rast an der Wallfahrtskapelle „Maria am Knie“ gerade recht – und eine kleine Jause. Bei Temperaturen um die 30 Grad.
Nachdem wir die Baumgrenze hinter uns gelassen haben, geht es durch saftige Wiesen entlang ziemlich steil in Richtung Kemptner Hütte. Die Kühe, die bräsig im Gras liegen, beachten uns kaum. Sie sind Wanderer gewöhnt. Nach einer weiteren Stunde haben wir es geschafft: Wir stehen tatsächlich vor unserer ersten Unterkunft im Hochgebirge: der Kemptner Hütte auf 1844 Metern Höhe. Unser erster Gedanke: geschafft! Unser zweiter und dritter: raus aus den Schuhen und her mit dem Radler! Während unsere Socken und Schuhe ausdampfen, genießen wir den prächtigen Ausblick auf den nördlichen Allgäuer Hauptkamm. Und den ersten Sonnenuntergang in den Bergen.
 

Tag 2 – von der Kemptner Hütte zur Memminger Hütte - 23 Kilometer
 

Gestärkt mit Müsli und Tee brechen wir am nächsten Morgen bereits um 7 Uhr auf. Schließlich haben wir die längste Tagestour vor uns: 23 Kilometer und über 1300 Höhenmeter. Doch der Blick auf die Lechtaler Alpen macht unsere Füße schnell und unsere Rucksäcke leicht. Außerdem sind wir nicht mehr zu zweit. Wir haben uns einer Wander-Gruppe angeschlossen. In den nächsten Tagen merken wir: Das ist so in den Bergen. Genauso wie die Tatsache, dass man sich ab 2000 Meter Höhe duzt.
Nach einem langen, beschwerlichen steilen Abstieg, der uns erstmals bewusst macht, dass unsere Knie lieber auf- als absteigen wollen, geht es durch Tannen- und Latschenwald Richtung Holzgau. Von hier fahren wir mit einem Kleinbus durch das Tal. Wir verzichten auf den Transport unserer Rucksäcke durch die Materialseilbahn und machen uns lieber zu Fuß auf über die untere Nordflanke, langsam, aber in stetigem Tempo, vorbei an Wasserfällen und bizarren Steinformationen.
Von weitem sehen wir die Memminger Hütte, die von Gipfeln eingerahmt ist. Sie thront auf 2242 Meter Höhe. Oben angekommen ist die Erleichterung in den Gesichtern der Wanderer abzulesen. Schroff ist die Landschaft, fantastisch der Blick. Heiß duschen bleibt am heutigen Tag allerdings ein Traum – es gibt nur kaltes Wasser. In der Hüttenstube sitzen die Wanderer am Abend dicht gedrängt – und irgendwie wirken sie wie eine große Familie. Die Köche haben keinen Blick dafür. Sie kommen kaum nach mit dem Kochen der Spaghettimassen. Die einfach fantastisch schmecken!
 

Tag 3 – von der Memminger Hütte bis nach Zams 12,5 Kilometer
 

Früh schnüren wir unsere Wanderschuhe. Und dass wir nach der anstrengenden längsten Etappe gestern, heute schon wieder voller Tatendrang sind, zeigt: Die Berge fordern nicht nur Energie – sie geben einem auch viel Energie zurück.  Und die werden wir brauchen. 
Denn der erste Abschnitt unserer Tagestour führt uns hinauf zur Seescharte, von der wir einerseits noch einmal auf die Memminger Hütte zurückschauen und andererseits einen atemberaubenden Blick ins Inntal wagen. Der Abstieg ist dann lang und mühsam – zunächst über wirklich unangenehm rutschige Geröllfelder. Doch der Blick in das verwinkelte Tal und die Oberlochalm entschädigt schnell für alles.
Vor einer Hütte rasten wir, leisten uns eine sündhaft teure Apfelsaftschorle und ein Schinkenbrot – werden von Kühen und Rindern neugierig beäugt. Unser Leben, wie es bisher war, ist weit, weit weg. Viel näher dagegen ist unser Tagesziel: Zams. Den Abstieg zum 775 Meter hoch gelegenen Dorf nehmen wir in Rekordzeit. Genau genommen sind wir nur deswegen so schnell unterwegs, weil wir verzweifelt versuchen, mit der schwäbischen Frauengruppe mitzuhalten, der wir uns heute morgen angeschlossen haben.
In Zams sind wir völlig erschossen. In einer Pension kühlen wir unsere Füße und unsere Kehlen. Erstere sind nach drei Tagen doch schon leicht gezeichnet von den Strapazen. Doch auf dem Balkon unserer Wirtin fliegt aller körperlicher Schmerz in die Berge hinauf.   
 

Tag 4 – von Zams bis zur Braunschweiger Hütte 16,5 Kilometer
 

Ein Tag der Extreme beginnt. Die Königsetappe. Doch davon ahnen wir noch nichts, als wir mit der Gondel in nur acht Minuten 1400 Höhenmeter zurücklegen, um auf den Krahberg zu gelangen. Von der Gondelstation ist es nicht mehr weit bis zum Gipfel. Doch auf dem Weg dorthin werden wir und unser Mitwanderer Martin von einem Hagelsturm überrascht. Eine echte Bewährungsprobe für die Regenkleidung. Bei der Witterung finden wir zudem kaum festen Tritt auf den glitschigen Steinen. Und vom „umfassenden“ Rundblick auf die Ötztaler Alpen keine Spur. 
Doch keine Stunde und wenige Kilometer später reißt der Himmel wieder auf – und vor uns öffnet sich das liebliche Pitztal. Die verschiedenen Grüntöne sind Balsam für die Seele.  Von Wenns geht es dann mit dem Postbus durch das Tal bis zu den Ausläufern des Mittelberg-Ferners. Vom Parkplatz machen wir uns an den Aufstieg zur Braunschweiger Hütte. Anfangs noch breit, wird der Weg immer schmaler und steiler. Der Blick zurück offenbart eine karge Landschaft. Bald sind wir so hoch, dass Gletscherzungen uns berühren – und auch die Kälte fasst uns heute – immerhin Anfang August – zum zweiten Mal an.
Nach knapp drei Stunden haben wir es geschafft: wir erreichen die Braunschweiger Hütte, die auf 2759 Meter Höhe inmitten der Gletscherlandschaft liegt. Und wir wagen einen Ausblick auf die morgige Königsetappe.
Die Hütte ist mehr denn je unser Zuhause geworden. Hier oben treffen wir Martin wieder, den Zeltträger, und lernen Klaus kennen, den fas siebzigjährigen und zugleich ungemein jungen Dresdner Bergfex, der bei Bier und Schnitzel und inmitten eines musikalischen Hüttenzaubers mal eben die Probleme unserer kleinen Welt löst. Um 10 Uhr ist Hüttenruhe. Und die Nacht beschert uns minus 10 Grad. Gut, dass die Wirtin Wärmflaschen bereithält.
 

Jörg Peter Urbach, wissen.de-Redaktion

 

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