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Schulnoten: Wie gerecht sind Lehrerurteile?

1 oder 6? Bist du sehr gut oder ungenügend? Zweimal im Jahr bekommen Millionen Schüler darauf eine gefürchtete Antwort. Und zweimal jährlich sorgen Schulnoten im Zeugnis für Freude oder Frust, entscheiden über Lernverläufe und Berufswahl. Immer mehr Schulen bezweifeln allerdings, dass Noten geeignet sind, um die Leistungen von Schülern angemessen zu beurteilen, und gehen neue Wege.
von wissen.de-Redakteurin Alexandra Mankarios, Februar 2013

Schüler
shutterstock.com/Poznyakov
Wenn an der Hamburger Erich Kästner Stadtteilschule Zeugnisse ausgegeben werden, haben die Schüler erst einmal viel zu lesen. Ein so genanntes Kompetenzraster teilt ihnen mit, was sie in verschiedenen Bereichen geschafft haben: Drei bis vier verschiedene Kompetenzen unterscheidet das Zeugnis in jedem Fach, in den Kernfächern sind es sogar sechs. Im Fach Deutsch gehören zum Beispiel die Kompetenzen „Texte schreiben“ oder „Rechtschreibung“ dazu, Kreuzchen geben Auskunft über die erreichten Leistungen. Hinzu kommt ein ausführlicher Kommentar zu jedem Fach, der mit Beispielen erläutert, wie sich der Schüler entwickelt hat. Zwei Tage nach der Zeugnisausgabe kommt jeder Schüler noch einmal mit seinem Lehrer und den Eltern zu einem Lernentwicklungsgespräch zusammen, um gemeinsam eine Bilanz des vergangenen Halbjahres zu ziehen und zu überlegen, welche neuen Ziele sich der Schüler im nächsten Halbjahr setzen kann.

Erst in der neunten Klasse, wenn der erste mögliche Schulabschluss ansteht, erhalten die Erich-Kästner-Schüler ihr erstes Notenzeugnis – jeder Schulabschluss muss sich schließlich mit einer Durchschnittsnote beziffern lassen.

Dass die Schule so lange auf Noten verzichten darf, ist nur möglich, weil sie am Hamburger Schulversuch "alles»könner" teilnimmt, in dem Konzepte für einen individualisierten, kompetenzorientierten Unterricht erprobt werden. Dazu gehört auch, dass die Schüler sich selbst Wochenziele setzen und für sie passende Lernangebote auswählen. In so genannten Logbüchern dokumentieren sie laufend ihre Lernfortschritte, zudem spricht alle zwei Wochen jeder Schüler für eine Viertelstunde lang mit dem Lehrer über seine Entwicklung und die nächsten Lernvorhaben.

Klassische Noten haben in diesem Lernarrangement keinen Platz. Andreas Giese, der didaktische Leiter der Erich Kästner Schule erklärt, warum: „Noten haben nur den Vorteil, dass man eine Art Durchschnittsleistung berechnen und damit darstellen kann, wo ein Schüler steht. Sie sind aber nicht dazu geeignet, ein Kind oder einen jungen Menschen differenzierter anzuschauen und zu beschreiben, wo seine Stärken und Schwächen liegen.“

 

Ungerechte Vergleiche

Ein individualisiertes Konzept, das jedem Kind Entwicklungsmöglichkeiten nach seinem eigenen Tempo ermöglicht, hatte sich auch Cosima Elspaß aus dem rheinland-pfälzischen Winnweiler vorgestellt, als die Grundschule ihrer Tochter zu einer so genannten Schwerpunktschule wurde, an der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Die Realität sah anders aus – und das hat auch mit dem Zwang zur Notenvergabe zu tun.

Zum Schulkonzept gehört die „Differenzierung“: Die Kinder können im Unterricht je nach Leistungsstärke zwischen leichteren und schwereren Aufgaben wählen, beispielsweise ein ganzes oder nur ein halbes Diktat schreiben. „Bei der Bewertung dieser Aufgaben wurde dann aber wieder ein Vergleich zur Gesamtgruppe hergestellt“, berichtet Elspaß. „Das führte dazu, dass die Kinder, die das halbe Diktat fehlerfrei geschrieben haben, beispielsweise trotzdem maximal eine Drei minus bekommen konnten.“ Für die behinderten Kinder in der Klasse grenze diese Art der Notengebung an Körperverletzung, meint Elspaß: „Man kann doch nicht einem Kind, das nachweislich mit einer Diagnose nicht lesen und nicht schreiben kann, immer und immer wieder sein Unvermögen mit der Ziffer Fünf oder Sechs dokumentieren!“

Nachdem Gespräche mit der Schule nichts änderten, zog Elspaß Inklusionsexperten zu Rate und wandte sich an die Schulaufsicht. Fazit: In der Klasse ihrer Tochter ist die bisherige Praxis nun untersagt – aber auch nur dort. „Alle anderen Klassen praktizieren das weiter so und auch die meisten anderen Schulen“, berichtet Elspaß. „Ich kenne im ganzen Regierungsbezirk nur zwei Grundschulen, von denen ich sagen würde, dass sie das besser machen.“

 

Noten und Unterrichtsgestaltung: untrennbar verbunden

Die zwei Beispiele aus Hamburg und Rheinland-Pfalz zeigen: Notengebung und die Art des Unterrichts hängen eng zusammen. Moderne Schulkonzepte, die das Augenmerk auf die individuelle Lernentwicklung der Kinder legen, sind schwer mit klassischen Schulnoten vereinbar. Denn die entstehen vor allem aus dem Vergleich mit anderen Schülern – meist den Klassenkameraden. Über die Klasse hinaus schwindet ihre Aussagekraft ohnehin rapide, das zeigen zahlreiche schulübergreifende Studien, die die Leistungen der Schüler mit ihrer Note verglichen haben.

Die ungewisse Aussagekraft von Noten – insbesondere im Zeugnis – liegt in ihrer doppelten Funktion: Zum einen sollen sie pädagogischen Nutzen haben, gleichzeitig dienen sie aber auch zur Selektion, indem sie – kurz, knapp und vermeintlich objektiv – Grundschulempfehlungen, Versetzungen oder Abschlüsse begründen sollen. „Notenzeugnisse haben es noch nie geschafft, den Schülern einerseits zurückzumelden, ob sie können, was sie in einer bestimmten Klasse können sollten, und andererseits die individuelle Lernentwicklung zu beschreiben. Ein Schüler kann in der neunten Klasse große Fortschritte gemacht und sich richtig bemüht haben, aber trotzdem noch nicht das können, was er in der neunten Klasse können müsste“, stellt Andreas Giese fest.

Gerade in ihrer Kürze sehen Befürworter von Noten ihren größten Vorteil. So etwa Max Schmidt, der Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbandes: „Ziffernnoten geben kurze, prägnante Rückmeldungen über den aktuellen Lern- und Leistungsstand eines Schülers. Ihre Bedeutung wächst angesichts eines in allen Schularten steigenden Anteils von Schülern mit Migrationshintergrund stetig weiter. Denn Noten versteht auch ohne differenzierte Deutschkenntnisse jeder, lange Worturteile nicht.“

Auch viele Grundschüler würden Schmidt recht geben – jedenfalls so lange, bis sie selbst ihr erstes Ziffernzeugnis in den Händen halten. Frank Behrens, Schulleiter der Hamburger Grundschule Kielortallee ist der Schülerwunsch nach Noten nicht unbekannt: „Früher konnte man diskutieren, ob es in Klasse 3 und 4 Noten- oder Berichtszeugnisse geben soll. In der Diskussion waren viele Schüler für Noten. Waren dann aber die Zeugnisse da, ging das Vergleichen los. Es gab Verzweiflung bei denjenigen, die eine Fünf hatten, Verzweiflung bei denjenigen, die eine Zwei anstatt der erwarteten Eins hatten. Danach haben ganz viele gesagt, dass sie zwar ursprünglich für Noten waren, sich nun aber die Berichte zurückwünschten.“

 

Selektion ohne Noten?

So umstritten ihre Aussagekraft ist, so groß ist der Einfluss von Noten: Wer die Realschule mit einer Vier in Mathematik verlässt, lässt zukünftige Arbeitgeber vermuten, dass er die Leistungsanforderungen gerade noch „ausreichend“ gemeistert hat – keine gute Voraussetzung, eine Ausbildungsstelle in einem technischen Beruf zu finden. Vielleicht war der Viererschüler aber auch trotz guter schriftlicher Leistungen einfach nur zu schüchtern, um sich mündlich zu beteiligen. „Die Aussage, dass sich jemand mündlich nicht so häufig beteiligt und dass er das verbessern sollte, ist wichtig für den Schüler, keine Frage“, stellt Andreas Giese fest. „Aber welchen Betrieb interessiert das? Und was sagt das über die tatsächliche Leistungsfähigkeit eines Schülers aus?“

Am liebsten würde Giese völlig auf Noten verzichten – auch in Abschlusszeugnissen. Als Selektionskriterium, zum Beispiel bei der Berufswahl, schlägt er statt Noten Kompetenzprofile vor, ähnlich den Rastern, die seine Schule nutzt. „Ein Schüler könnte dann, wenn er sich für einen Beruf interessiert, dessen Kompetenzprofil aufrufen und zu seinem Ziel machen. Ich hoffe sehr, dass wir irgendwann dahin kommen.“

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