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Tempelbezirk von Khajuraho

Es käme der Sache ziemlich nahe, würde man der Auffassung sein, Khajuraho als ein einziges großes Missverständnis anzusehen, zumindest wenn man die neuzeitlichen Interpretationen der steinernen Szenen an den verschiedenen Tempeln bedenkt. Von ferne betrachtet, wirken sie noch ganz unproblematisch. Wie stumme Zeugen einer lange untergegangenen Hochkultur erheben sich Dutzende von Tempeltürmen über der Ebene.

von Thomas Barkemeier

Um ihre Heraushebung aus der profanen Welt zu dokumentieren, wurden die Tempel auf eine hohe Plattform gesetzt. Alle sind auf einer Ost-West-Achse ausgerichtet, wobei der Eingang der aufgehenden Sonne zugewandt ist. Mehr noch als das gesamte Ensemble beeindruckt die unvergleichliche Fülle an Skulpturen und Reliefs aus weichem Sandstein, die unbekannte Steinmetze für die Nachwelt hinterließen. Jeder Zentimeter scheint mit Göttern, Königen, Musikern, Tieren und Fabelwesen bedeckt zu sein. Allein am Kandariya Mahadeva, dem mit 31 Meter höchsten und gleichzeitig prächtigsten Tempel Khajurahos, wurden Hunderte von Skulpturen gezählt, viele von ihnen annähernd einen Meter hoch. Der hiesige Tempelbezirk repräsentiert eine Bauform, in der die Skulpturen nicht nur eine dekorative Funktion besitzen, sondern zugleich integraler Bestandteil der Tempel sind, ja mit ihnen geradezu zu verschmelzen scheinen.

Was letztlich jedoch Khajurahos eigentliche Bedeutung ausmacht und jedes Jahr Zehntausende von Besuchern anlockt, sind die in unvergleichlicher Fülle und Detailgenauigkeit dargestellten erotischen Szenen. Das lustvolle Über-, Unter- und Nebeneinander der offenkundig höchst engagierten Darsteller zeugt von ebenso reicher Fantasie wie von fast schon olympiareifer Akrobatik. Oft ist schon ein zweiter Blick erforderlich, um herauszufinden, wer sich mit wem und wie der sexuellen Lust hingibt. Welch für heutige Verhältnisse bizarr anmutende Fantasie die Steinmetze bei ihrer im wahrsten Sinne des Wortes lustvollen Arbeit antrieb, zeigt eine Szene, bei der ein Reitersmann die Liebe zu seinem Pferd allzu wörtlich nimmt. Die beiden dem Geschehen beiwohnenden Beobachter, die ob solcher Freizügigkeit die Hände vors Gesicht schlagen, machen deutlich, dass derartige Sexualpraktiken auch zur damaligen Zeit als zumindest gewöhnungsbedürftig angesehen wurden.

Die Darstellung erotischer Szenen im Hinduismus ist durchaus nichts Unübliches, doch nirgendwo geschieht dies mit derselben Exzessivität wie in Khajuraho. Dabei steht die tabulose Offenheit im krassen Widerspruch zum prüden Indien von heute. So werden von den sittenstrengen Indern auch die haarsträubendsten Erklärungen abgegeben, um die "zügellosen Ausschweifungen" in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Ungewollt komisch wirkt dabei die allerdings sehr ernst gemeinte These, die erotischen Skulpturen sollten das Gotteshaus vor Blitzeinschlag schützen. Die mit erhobenem Zeigefinger vorgetragene Ermahnung, die Liebespaare sollten den Besucher vor Betreten des Tempelinneren plastisch vor Augen führen, dass man allen fleischlichen Gelüsten zu entsagen habe, um zum eigentlichen Sinn des Lebens, dem Göttlichen, vorzudringen, zeugt hingegen von jener körperfeindlichen Sexualmoral, die das Resultat einer unglücklichen Verbindung von orthodoxem Hinduismus und dem durch die Engländer hinterlassenen puritanischen Viktorianismus ist.

Dabei ist die Darstellung von Liebespaaren ein bedeutender Aspekt der im Hinduismus tief verwurzelten vorarischen Fruchtbarkeitskulte. In der sexuellen Ekstase wird das Göttliche und damit das eigentliche Ziel eines jeden Lebewesens erfahren. So sind die Gesichter der Liebenden auch nicht von Lüsternheit, Erregung und Anspannung, sondern von einer fast schon weltentrückten Gelassenheit gekennzeichnet. Die Vereinigung ist hier kein in erster Linie körperlicher Akt, sondern eine spirituelle und damit religiöse Form der Gotteserfahrung. Von der im schmucklosen Inneren des Tempelturmes ruhenden Götterstatue geht die Kraft aus, die sich an den Außenwänden des Tempels zum "Tanz des Lebens" steigert.

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