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Tiefseeforscher suchen den Riesenkalmar

Morgens bringen die Jakobsens die Kinder zur Schule, dann fahren sie zur Arbeit – erst ein paar Meilen raus aufs Meer, dann 1000 Meter in die Tiefe. Denn statt sich wie andere hinter den Schreibtisch zu klemmen, steigen Kirsten und Joachim Jakobsen in die Lula 1000 und tauchen mit dem 7,5 Meter langen U-Boot in eine faszinierende, fremde Welt ab: die Tiefsee vor den Azoren. Was die Tierfilmer hier entdecken, hat noch kein Mensch gesehen.
wissen.de-Redakteurin Susanne Böllert

Seit dem Sommer ist das deutsche Ehepaar, das auf der Azoreninsel Faial lebt, mit ihrem selbst entworfenen und in Deutschland gebauten U-Boot in den Tiefen des Atlantiks unterwegs – der Meeresgrund in 1000 Metern Tiefe ist nach 40 Minuten erreicht. Nur zehn U-Boote weltweit sind in der Lage, so tief zu tauchen und dem Druck von 100 bar standzuhalten. Für Taucher mit Tauchflasche wird es schon ab 50 Metern brenzlig.

 

Kaum erforscht: die finsteren Tiefen der Meere

Welche Wesen diese kalte, dunkle Wasserwelt bevölkern; wie sich Fische, Kalmare und Korallen einer für menschliche Begriffe unwirtlichen und unwirklichen Welt angepasst haben; welche Geheimnisse die Tiefsee birgt – all dies ist vier Jahrzehnte nach der ersten Mondlandung noch immer nicht bekannt.

Dass die Meeresgründe noch heute derart schlecht erforscht sind, halten die Jakobsens für "eine Schande", sie führen es auf Kostengründe zurück. "Wie schützenswert die Tiefsee ist, können wir aber erst wissen, wenn wir sie besser kennen", erklärt Kerstin Jakobsen angesichts des nun erwachten wirtschaftlichen Interesses an den Bodenschätzen der Tiefsee, besonders an den in Jahrmillionen gewachsenen Manganknollen.

Schätze ganz anderer Art sind es, die die ehemalige Verwaltungswirtin im Auswärtigen Dienst und der Tauchprofi bei ihren Reisen in die Unterwasserwelt jagen – natürlich nur mit Scheinwerfern und Kamera, wie Tierfilmer Joachim Jakobsen betont. "Je tiefer wir kommen, desto verrückter werden die Fische, Quallen, Garnelen und Kalmare, die wir entdecken", sagt seine Frau. Häufig wüssten sie gar nicht, welche Art sie gerade vor der Linse hätten, "die meisten sind undokumentiert und haben noch keinen Namen."

 

Methusalem-Muschel: Riesenauster lebt seit 500 Jahren

Die 43-Jährige führt die Kamera, während ihr Mann das motorgetriebene U-Boot durch das Freiwasser steuert. Welcher Organismus auch immer an den beiden vorbeischwimmt, er wird so eingehend wie möglich gefilmt und so detailliert wie möglich dokumentiert – gar nicht so einfach, die Meeresbewohner halten nicht unbedingt still, wenn sich die Lula 1000 nähert.

Natürlich gehen die Jakobsens nicht (nur) zum Vergnügen auf Tiefsee-Verfolgungsjagd. Vielmehr erfüllen sie verschiedene Film- und Forschungsaufträge, unter anderem geben sie die ozeanographischen Daten und Filmaufnahmen an die für Meeresschutzzonen zuständige Stelle der Azorenregierung weiter. Andere Auftraggeber sind das Ozeanographische Institut der Azoren, das Meeresmuseum Stralsund oder das Paläontologische Institut der Uni Erlangen.

Es war bei einem Tauchgang eben für dieses Institut, als das Forscherpaar eine unglaubliche Entdeckung machte: eine steinalte, aber quicklebendige Riesenauster, die man bisher nur in fossiler Form kannte und die, wie sich herausstellen sollte, unglaubliche 500 Jahre alt war. Kerstin und Joachim Jakobsen hatten das älteste lebende Tier der Welt aufgespürt.

"Niemand hat gewusst, dass Tiere ein solches Alter erreichen können", sagt Kirsten Jakobsen. Genauso wenig wusste man von der Existenz der beiden Korallenriffs, auf die die Jakobsens in 300 und in 1000 Metern Tiefe gestoßen sind. Da höher gelegene gilt als das einzige lebende Riff der Korallenart Dendrophyllia weltweit.

 

Auf der Suche nach dem zehnarmigen Riesen

Die Tauchgänge der Jakobsens, die bis zu fünf Stunden dauern und hoch konzentriert ablaufen, sollen dem Ehepaar aber noch einen weiteren Superlativ bescheren: Sie wollen endlich Architeuthis erwischen, den Riesenkalmar, der bislang nur ein einziges Mal lebendig gesehen und sonst nur tot an die Strände der Weltmeere gespült wurde. 

Architeuthis, so schätzt man,  kann mit 18 Metern maximaler Körpergröße das Ausmaß eines Mehrfamilienhauses einnehmen. "Kalmare sind unsere Lieblingstiere", sagt die Norddeutsche Jakobsen lapidar, von all den Schauergeschichten über den Unterwasserriesen Architeuthis völlig unbeeindruckt.

 

Tauchboot gegen Tiefseefauna

Die Vorstellung, der Riesenkalmar könnte ihre Lula 1000 einen Kilometer unter der Wasseroberfläche in völliger Einsamkeit und ohne jede Möglichkeit, Hilfe zu holen, mit einem seiner zehn ungeheuer starken Tentakeln durch die Gegend schleudern, diese Vorstellung entlockt der 43-Jährigen nur ein fröhliches Lachen. "Ach, das U-Boot hält das schon aus. Der Germanische Lloyd Hamburg hat es ja zuvor auf absolute Sicherheit getestet", erklärt sie unbekümmert. Außerdem seien sie schon des Öfteren von einem vorbeischwimmenden Hai angestupst worden. "Nur ganz leicht, mit der Nase." Na dann ist ja alles gut.

Die Liebe zu den Kalmaren war es auch, die den heute 56-jährigen Joachim Jakobsen 1989 vor den Azoren ankern ließ. Der Tierfilmer, der schon von Kindesbeinen an mit seinen Eltern getaucht ist und so wie sie viele Jahre für die Pioniere der Unterwassertechnik, Ada Niggeler und Dimitri Rebikoff, gearbeitet hat, befand sich mit seinem Segelschiff auf großer Reise. Schnell war ihm klar: Hier auf den Azoren würde er bleiben. Die Schönheit der Inseln, die unerforschte atlantische Tiefsee und vor allem das gehäufte Vorkommen von Kalmaren gaben den Ausschlag.

 

Tüftler auf Tauchgang

Erst baute der "geniale Erfinder", wie ihn seine Frau anerkennend nennt, eine Werkstatt für Unterwasserkameras. Dann überführte er die Firma seiner Lehrmeister in die gemeinnützige Stiftung Rebikoff-Niggeler. Und baute 1997 sein erstes Tauchboot, das es immerhin schon auf 500 Meter Tiefe brachte.

Eine Million Euro hat der Nachfolger, die Lula 1000, gekostet, zum Großteil aus Stiftungskapital finanziert. Neben all dem technischen Gerät wie die hochauflösenden, extrem lichtempfindlichen Kameras, dem Unterwasser-Navi, dem Sedimentsauger zur Probenentnahme und dem Sonar ist der wichtigste Bestandteil des U-Bootes ohne Frage die 1,40 Meter große Plexiglaskuppel.

Die ist so gewölbt, dass sie einen Blickwinkel von 150 Grad bietet und misst an ihrer dünnsten Stelle beachtliche 14 Zentimeter. Und dennoch sei sie lupenrein, die Sicht nach draußen glasklar, wie Kirsten Jakobsen erklärt: "Die Firma Evonik hat ein Verfahren entwickelt, bei dem das Plexiglas erst auf Unreinheiten kontrolliert und danach erst verformt wurde."  Das mache es möglich, dass die Lula 1000 selbst eine Art Riesenkamera sei und sie und ihr Mann – und gelegentlich ein faszinierter Besucher – direkt im Objektiv säßen.

 

Knapp verpasst: Tintenwolke verdeckt die Sicht

"Erst wenn man selbst durch das Wasser schwebt oder über den Meeresboden gleitet und mit eigenen Augen die Unterwasserorganismen verfolgen kann, erschließt sich einem die ganze Schönheit der Tiefsee", finden die Jakobsens, die von dem Trend, unbemannte, ferngesteuerte Fahrzeuge auf den Meeresgrund zu schicken, wenig halten.

Niemals hätten sie dasselbe empfunden wie damals am 17. Juni 2013 bei ihrem ersten Tauchgang mit der Lula, als sie in 600 Metern Tiefe plötzlich durch eine riesige Wolke fuhren. Sieben Meter maß sie – und bestand aus Tinte. "Wir müssen Architeuthis um Haaresbreite verpasst haben", sagt Kirsten Jakobsen, aber seine Hinterlassenschaft habe ihrer Mission mächtig Auftrieb verliehen.

"Wir werden ihn suchen, bis wir ihn gefunden haben", ist sich das Ehepaar einig. Und vielleicht lockt ja Joachim Jakobsens neueste Erfindung den Riesenkalmar endlich vor die Linse: Mit einer oben am U-Boot angebrachten Futterspritze servieren die Jakobsens ihrem Objekt der Begierde neuerdings feinste Fisch- und Minikalmar-Suppe. Wohl bekomm‘s, Architeuthis!

 

Erfahren Sie mehr über den Riesenkalmar - ein Meeresgigant, der doch nur Walfutter ist.

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