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Tihange und Co: Tickende Zeitbomben?

Obwohl sich Deutschland dazu entschieden hat, aus der Kernenergie auszusteigen, ist die Gefahr eines atomaren Unfalls nicht gebannt. Zum einen sind auch bei uns noch einige wenige Atomkraftwerke aktiv. Zum anderen sind wir von zahlreichen in die Jahre gekommenen Reaktoren unserer Nachbarn umzingelt - teilweise stehen diese nur wenige Kilometer hinter der Grenze. Wie sicher sind diese Kernkraftwerke in unserer direkten Nachbarschaft? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
DAL, 23.10.2017

Das an der Maas gelegene Kernkraftwerk Tihange geriet wiederholt wegen Sicherheitsmängeln am Reaktorbehälter in die Schlagzeilen.
Welche Risiko-Meiler gibt es nahe der Grenze?

Unweit der deutschen Grenze stehen etliche Atomkraftwerke - unter anderem in Frankreich und Belgien. Viele dieser Meiler sind inzwischen 40 Jahre und länger am Netz und geraten immer wieder wegen Sicherheitsmängeln in die Kritik. In letzter Zeit besonders im Fokus sind dabei die grenznahen Atomkraftwerke Fessenheim und Cattenom in Frankreich sowie Doel und Tihange in Belgien. Letzteres befindet sich nur knapp 70 Kilometer von Aachen entfernt.

Die Anlage in Mühleberg ging 1972 ans Netz und ist das zweitälteste noch in Betrieb befindliche Kernkraftwerk Europas.
Doch auch das altersschwache Kernkraftwerk Mühleberg in der Schweiz ist in der Vergangenheit immer wieder in die Schlagzeilen geraten. Der Grund: seine umstrittene Erdbebensicherheit. Auch die Tschechische Republik betreibt Atommeiler unweit der deutschen Grenze, die in der Kritik stehen. Zum Beispiel das Kernkraftwerk Temelin: Erst 2015 liefen hier wegen eines defekten Reaktordeckels rund 1.500 Liter Kühlwasser aus. Umweltschützer kritisieren Temelin seit Jahren als besonders störanfällig und gefährlich - auch wegen der umstrittenen Reaktoren sowjetischer Bauart.

Das Kraftwerk im tschechischen Temelin gilt seit Jahren als besonders störanfällig und gefährlich.
Wie gefährlich sind Tihange und Co?

Das belgische Kernkraftwerk Tihange war seit 2012 fast durchgehend abgeschaltet, nachdem Sicherheitsmängel am Reaktorbehälter festgestellt worden waren. Doch Ende 2016 wurde der Meiler trotz Protesten aus Deutschland wieder hochgefahren. Wie groß die Gefährdung seitdem wirklich ist, lässt sich nur schwer abschätzen. Klar ist aber: Von vielen Experten und deutschen Regierungspolitikern wird der Betrieb von Tihange kritisch gesehen.

In der nahe gelegenen Stadt Aachen ist die Angst vor einem atomaren Unfall so groß, dass die Behörden Ende 2015 eine Notfallübung gegen eine drohende Verseuchung durchführen ließen und vor kurzem mit der Verteilung von Jodtabletten in der Bevölkerung begonnen haben. Sie sollen einer Erkrankung durch Schilddrüsenkrebs vorbeugen, falls die Region eines Tages atomar verstrahlt werden sollte.

Wenig Anlass zur Beruhigung gibt auch eine jüngst veröffentlichte Studie im Auftrag von Greenpeace. Für die Untersuchung haben unabhängige Experten nicht nur die Sicherheit von Tihange, sondern die von sieben belgischen und allen 58 französischen Meilern überprüft. Demnach weisen viele dieser Kernkraftwerke gravierende Sicherheitsmängel auf. Die Ergebnisse sind dabei laut Angaben von Greenpeace so brisant, dass zunächst nur die französischen Behörden die Details erfahren haben.

Das französische Kernkraftwerk Fessenheim liegt in einem seismisch äußerst aktiven Gebiet, dem Oberrheingraben.
Was sind die größten Störquellen?

Ein Großteil der meldepflichtigen Störfälle in Europa war in den letzten Jahren auf Probleme bei der Stromversorgung zurückzuführen. Um eine zuverlässige Stromversorgung für Kühlung und Sicherheitssysteme zu gewährleisten, verfügen Atomkraftwerke über eine mehrfache Netzanbindung. Fallen diese aus und gelingt die Umschaltung auf Eigenbedarfsversorgung nicht, soll die Notstromversorgung einspringen - so die Theorie. In der Praxis jedoch kommt es vor, dass auch Notstromaggregate versagen oder Schalter im Stromversorgungssystem nicht funktionieren. In Schweden führte das 2006 sogar zum Beinahe-GAU.

Neben der Stromversorgung ist auch das Baumaterial der Reaktorbehälter anfällig. So fanden Inspektoren der belgischen Atomaufsicht 2012 bei Ultraschalluntersuchungen winzige Risse im Stahl der Reaktorbehälter von Tihange und Doel. Insgesamt sind die Wände im Reaktor Doel 3 mit mehr als 13.000 Haarrissen durchsetzt, im Druckbehälter von Tihange 2 entdeckten die Experten rund 3.000 solcher Schäden. Offenbar hatte die jahrelange Strahlung die mechanischen Eigenschaften des Materials stärker beeinträchtigt als erwartet.

Eine weitere Störquelle stellen Experten zufolge die Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente dar. Sie weisen laut der aktuellen Greenpeace-Studie vielerorts gravierende Mängel bei der Sicherheit auf. Obwohl in ihnen hoch radioaktive Strahlung anfällt, sind sie bisher kaum geschützt. Stattdessen konzentrieren sich die Sicherheitskonzepte der Atommeiler überwiegend auf den Reaktor.

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