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Über Land und über See – Flüchtlingsdramen

Schon im Spätsommer 1944 waren erste sowjetische Einheiten ins östliche Ostpreußen eingedrungen und hatten solchen Schrecken verbreitet, dass Gauleiter Koch als Erster ein Fluchtverbot aussprach, ein Mann der wusste, was Terror war, und dass ihn die Betroffenen so schnell nicht vergessen können. Er hatte als Reichskommissar für die Ukraine 1941-1944 wahllos Plünderung, Verderben und Tod über das ihm anvertraute Land gebracht und konnte sich ausmalen, was seiner jetzigen Provinz blühen würde.

Noch aber hatten die Russen Halt gemacht und gruppierten ihre Truppen zum entscheidenden Schlag um. Koch ahnte ebenso wenig wie die Frontkommandeure, dass es ein doppelter werden würde; frontal gegen die deutsche Grenze auf ganzer Länge und zugleich von Süden her Richtung Ostsee, so dass der östlichste Reichsteil zur riesigen Falle werden sollte. Der gigantische Panzergraben, den Koch ausheben ließ, würde dann der Bevölkerung, die er in Geiselhaft genommen hatte, auch nichts mehr helfen.

Gewagte Flucht über das zugefrorene Haff
Und so kam es dann auch: Am 12.1.1945 brach die sowjetische Großoffensive aus den Narew- und Weichselbrückenköpfen los. Der gigantischen Übermacht hatten die Wehrmachtsverbände nichts entgegenzusetzen. Sie zogen sich hinter die Reichsgrenzen zurück, ihre dünne Front im Norden wurde schnell durchbrochen und Ostpreußen beim Vorstoß der Roten Armee auf Elbing innerhalb von 14 Tagen vom Reichsgebiet abgetrennt; nur noch schmale Korridore und der Weg über See waren offen. Zu spät hatten die Behörden die Evakuierung genehmigt, die noch kurz zuvor relativ geordnet möglich gewesen wäre.

Trotz des riskanten Weges wählten nun gezählte Menschen auf eigene Faust die Flucht über das zugefrorene zwanzig Kilometer breite Frische Haff in der Hoffnung, auf der vorgelagerten Nehrung Schiffe oder Kähne zu finden, die sie nach Westen in die Sicherheit bringen würden. Viele erfroren unterwegs bei sibirischen Temperaturen von minus 30 Grad in Schneestürmen, fielen russischen Tieffliegern zum Opfer, brachen mit ihren Gespannen ins Eis ein oder versanken in Eislöchern, die von der schweren Artillerie der Sowjets gerissen worden waren. Zu alledem kam noch die Furcht vor den eigenen Leuten: Feldjäger und SS machten Jagd auf wehrfähige Männer; Soldaten, die ihnen in die Hände fielen, wurden als Deserteure an Ort und Stelle erschossen.

Der Seeweg als letzte Rettung
Erste Zwischenziele der Flüchtlinge waren die Häfen Pillau vor Königsberg, das allerdings auch schon seit 30.1.1945 von allen Landverbindungen abgeschnitten war, Danzig und Gotenhafen (Gdingen), die bis Ende März 1945 in deutscher Hand blieben. Wer es bis hierher schaffte, hatte gute Chancen auf Weiterkommen. Der Seeweg war erste Wahl, weil die Ostsee noch immer weitgehend von der deutschen Kriegsmarine kontrolliert wurde und weil die Strapazen gerade für Kranke, Alte und Kinder trotz der drangvollen Enge an Bord am ehesten zu ertragen waren. Gefahrlos freilich war auch diese Route nicht, denn es wimmelte von sowjetischen U-Booten, und der küstennahe Weg, den kleinere Schiffe nehmen mussten, lag unter dem Dauerfeuer der an die Küste vorgedrungenen Verbände der Roten Armee.

So waren Tragödien an der Tagesordnung, wie das Schicksal des Fahrgastschiffs „Wilhelm Gustloff“ gezeigt hat. Über 5000 Menschen kamen beim Untergang des Schiffes am 30.1.1945 in der eisigen See um, nur etwa tausend wurden lebend geborgen.

Gefährlicher Landweg
Die weitaus meisten Menschen entschieden sich für die Flucht auf dem Landweg. Wer dabei in den hastigen Rückzug der deutschen Verbände geriet, war nicht viel besser dran als die, deren Trecks von den Panzern der Roten Armee überholt wurden. Im ersteren Fall fielen die Fliehenden nicht selten Kampfhandlungen zum Opfer, im zweiten blühten ihnen Tod, Verschleppung, Vergewaltigung, Wegnahme der letzten Habe oder Rückmarsch in die verlassenen Ortschaften, wo sie in Ställen und Höhlen vegetieren mussten und Sklavenarbeit für die einquartierten sowjetischen Truppen zu leisten hatten. Zur physischen Qual kam die seelische Pein, wenn sie die Leichen der Zurückgebliebenen vorfanden. Selbstmorde aus Scham über erlittene sexuelle Gewalt oder aus Not und vor Schmerz über umgekommene Verwandte, erfrorene oder verhungerte Kinder häuften sich.

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