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Was ist eine Straßenzeitung?

ELENI ADAMIDU; © BISS

Die Idee kommt aus Amerika: Obdachlose Menschen stellen eine Zeitschrift her, verkaufen sie auf der Straße und verdienen sich damit ihren Lebensunterhalt. Sie verkaufen also ihr Blatt. Am 17. Oktober 1993 kam BISS mit einem ähnlichen Konzept als erste Straßenzeitung in Deutschland auf den Markt. Anfangs waren obdachlose Menschen, die als Verkäufer akquiriert wurden, in alle Produktionsschritte eingebunden. Im Laufe der Jahre ging die Entwicklung allerdings in Richtung Professionalisierung. Das heißt, eine schlanke Redaktion sorgt dafür, dass ein seriöses Produkt pünktlich auf den Markt kommt. Damit interessierte Verkäufer dennoch Raum für die Veröffentlichung ihrer Gedanken haben, gibt es die Rubrik "Schreibwerkstatt". Doch ist ein professionell gemachtes Blatt noch das Blatt der Verkäufer? Können sie sich damit identifizieren? Könnten sie nicht ebenso gut die „Abendzeitung" oder die „Süddeutsche Zeitung" verkaufen?

Mittlerweile gibt es in Deutschland über dreißig Straßenzeitungen, und seit Bestehen dieser Blätter streiten sich die Macher darüber, welches Konzept das richtige ist. Sollen Verkäufer unter Anleitung von Journalisten und Layoutern ihre Zeitung auch selbst herstellen? Oder ist dem Selbstwertgefühl der Verkäufer Genüge getan, wenn Profis eine Zeitung für sie herstellen? Jede Straßenzeitschrift in Deutschland hat diese Frage für sich beantwortet und ihre Arbeitsweise danach ausgerichtet. BISS hat die Frage anders gestellt: Möchte ein Mensch, der unter einer Brücke lebt, gemeinsam mit einem Journalisten eine Zeitung machen, oder möchte er Geld verdienen und sich neue Perspektiven eröffnen? So gestellt, war die Frage leicht zu beantworten, und die langjährige Zusammenarbeit mit unseren Verkäufern zeigt, dass BISS richtig lag mit der Entscheidung, den Verkäufern Verdienstmöglichkeiten und Perspektiven zu bieten. Doch die Frage ist berechtigt: Was macht für einen obdachlosen Menschen den Unterschied aus im Verkauf einer Straßenzeitschrift und einer marktüblichen Tageszeitung? Die BISS-Antwort: Der Verkäufer spielt bei einer Straßenzeitung die erste Geige. Das verträgt sich vielleicht nicht immer gut mit einer hohen Auflage, doch sehr gut mit seriösem Journalismus. Denn ein Straßenmagazin, das sich als Lobby für Bürger in sozialen Schwierigkeiten versteht, das über soziale Themen berichtet, gesellschaftliche Zusammenhänge aufzeigt und immer auf die menschliche Seite der Welt fokussiert, wird glaubwürdiger, wenn es im Umgang mit seinen Mitarbeitern, im Besonderen mit seinen Verkäufern, praktiziert, was es predigt.

Für eine Straßenzeitung gelten im Grunde die selben Marktregeln, denn auch sie muss erst mal verkauft werden. Nur, die Prioritäten liegen anders. Dass der Verkäufer im Vordergrund steht, hat zur Folge, dass das Blatt so kostengünstig wie möglich zu sein hat, denn Geld soll hauptsächlich den Verkäufern zukommen. Konkret heißt das: BISS hat nur eine Redakteurin eingestellt, die für die Festlegung von Schwerpunktthemen, die Blattkonzeption, Redaktion der Texte, Bildauswahl, Abnahme der layouteten Seiten verantwortlich ist. BISS zahlt zwar ordentliche Honorare für die freien Mitarbeiter Journalisten, Fotografen, Schlussredakteurin und Layouter - doch BISS leistet sich beispielsweise keine teuren Agenturfotos. Letztlich heißt das, die Redaktion hat professionelle Ansprüche, doch nicht immer professionelle Mittel.

Dafür genießt sie den seltenen Vorzug, nur einem seriösen Journalismus verpflichtet zu sein und nicht beispielsweise den Anzeigenkunden. Niemand kann sich bei BISS einen Beitrag kaufen, weil er im Gegenzug eine teuere Anzeige schaltet. Ein Inserat kann unter Umständen abgelehnt werden, wenn die sechs Seiten, die für Anzeigen vorgesehen sind, bereits verkauft sind. Denn der Umfang der Zeitschrift ist ebenfalls aus Kostengründen auf 32 Seiten festgelegt. Ein zusätzlicher Pluspunkt: Die Verkäufer müssen nicht schwer an ihren Exemplaren schleppen. (Nur in der Doppelnummer Juli/August und in Ausnahmefällen gibt es 40 Seiten.) BISS ist übrigens in allen wesentlichen Punkten maßgeschneidert: Auch zur Freude der Journalisten gibt die Redaktion nur so viele Beiträge in Auftrag, wie für eine Ausgabe benötig werden, es wird nur so viel gedruckt, wie verkauft wird. Und da es auch angestellte Verkäufer gibt, die ein gewisses Kontingent verkaufen müssen, ist es möglich, die Auflage im Großen und Ganzen stabil zu halten.

Verkäufer, die Sozialhilfe beziehungsweise Arbeitslosengeld beziehen, dürfen nur eine bestimmte Anzahl an Exemplaren verkaufen. Das schadet zwar der Auflage, doch die Verkäufer kommen meist nicht in Bereiche, in denen dieser Nebenverdienst auf ihre Sozialhilfe angerechnet werden muss. Obwohl die Auflage nicht die zentrale Rolle spielt, ist die Qualität der Zeitschrift von immenser Wichtigkeit, denn darüber erhält der Verkäufer sein Selbstwertgefühl. Bei einer erfolgreichen Sache dabei zu sein ist identitätsstiftend. Er bietet eine Zeitschrift an, für die tatsächlich eine Nachfrage besteht. Letztlich wird nur eine gute Zeitschrift nicht nur aus Mitleid gekauft, sondern auch gelesen eine wesentliche Voraussetzung zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für eher tabuisierte Themen wie Armut und Obdachlosigkeit und dem Beitrag der Gesellschaft daran.

Sozialwissenschaftler und -pädagogen befürchten durch den Verkauf einer Straßenzeitung eine Brandmarkung, eine Stigmatisierung der Verkäufer, denn der obdachlose Mensch outet sich durch den Verkauf als arm und bedürftig. Doch: Ist es eine Handlung, die stigmatisiert, oder die Gesellschaft? Ist einem obdachlosen Menschen eher gedient, wenn man ihn im Verborgenen lässt? BISS arbeitet durch die Inhalte des Blattes daran, dass nicht nur Obdachlose nicht stigmatisiert werden, sondern auch nicht allein erziehende Mütter, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Homosexuelle ...

Zudem ist es eine Frage der Sichtweise: Steht bei einem BlSS-Verkäufer seine Armut, also wenn man so will, sein Scheitern, im Vordergrund, oder dass er aus eigener Kraft und durch eigene Leistung einen Weg aus der Obdachlosigkeit gefunden hat und ihn geht? Zumal BISS mit Anstellungen gesellschaftlich anerkannte Perspektiven bietet und keine legitimierte Form des Betteins ist. Wir wissen, dass für unsere Leser die Leistung der Verkäufer im Vordergrund steht, die sie auch honorieren. Dennoch, es wird immer Menschen geben, die sich besonders gut fühlen, wenn sie jemanden sehen, der ihnen unterlegen scheint, und ihn das spüren lassen. Die meisten unserer Verkäufer sind selbstbewusst genug, um mit solchen Situationen souverän umzugehen. BISS ist aber auch bewusst, dass es Menschen gibt, die nicht mehr in der Lage sind, etwas zu leisten. Für sie versucht die Zeitschrift als Meinungsmacher um Verständnis zu werben und ihnen das kommunale und staatliche Hilfenetz zu erhalten. Den anderen bietet BISS seit Jahren mehr als eine Chance, setzt mit Erfolg auf die Leistungsbereitschaft der Menschen, die die Gesellschaft in punkto Arbeit aufgegeben hatte. Darin eine Stigmatisierung zu sehen ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Mit dieser Haltung ist BISS Avantgarde.

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