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Lesen macht nicht nur schlau, sondern auch locker
Nehmen wir das Offensichtliche vorweg – Lesen macht schlau. Diese intuitive Wahrheit, die viele von uns vermutlich schon von Kindesbeinen an häufig gehört haben, ist auch wissenschaftlich belegt. Zum einen haben Grundschüler, die fast täglich lesen, einen größeren Wortschatz als junge Lesemuffel, schließlich lernen Kinder beim Lesen neue Worte. Und Kinder, die häufig neue Worte lernen, steigern dabei auch noch die Geschwindigkeit, in der sie dazulernen. Dadurch lernen sie noch mehr Worte. Oder um es in den Worten des Evangelisten Matthäus zu sagen: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben.“
Ein weiterer Grund, dass die jungen Leseratten nicht klischeehaft bebrillt, sondern eher brillant sind: Regelmäßiges Lesen stärkt bestimmte Gehirnstrukturen, die mit einem hohen IQ zusammenhängen. Beim Lesen von Harry Potter oder Ronja Räubertochter müssen sich die Kinder wichtige Informationen, wie die Namen der Charaktere oder die Handlungsstränge merken. Außerdem müssen sie wichtige von unwichtigen Informationen unterscheiden können und sich über längere Zeit konzentrieren. Diese Fähigkeiten könne auch bei anderen Denkaufgaben weiterhelfen.
Wer früher liest, ist kürzer tot
Die gesteigerte Intelligenz der Leseratten zahlt sich später im Leben sogar finanziell aus: Eine Forschergruppe der Universität Padua hat herausgefunden, dass Menschen, die als Kinder mehr Bücher im Haus hatten, heute mehr Geld verdienen – im Durchschnitt gehen monatlich ganze 20 Prozent mehr Gehalt auf die Konten der Bücherwürmer. Grund seien unter anderem die schon in jungen Jahren gestärkten kognitiven Leistungen.
Bücherwürmer leben auch noch länger. In einer Studie der Yale University untersuchten die Forschenden die Lebenserwartung von „Lesern“, die bis zu dreieinhalb Stunden die Woche lasen, „Viellesern“, die über dreieinhalb Stunden pro Woche lasen und Nichtlesern. Das Ergebnis: Die Lebenserwartung der Menschen, die ihre Nase nur bis zu dreieinhalb Stunden in der Woche in ein Buch steckten, war 17 Prozent höher als die der Lesemuffel. Bei den viel-lesenden Bücherwürmern war sie sogar um 23 Prozent erhöht.
Erste Hilfe durch Romantherapie
Eine Ursache dafür könnte der entspannende Effekt des Lesens sein. Während es mittlerweile gang und gäbe ist, sich für den inneren Seelenfrieden auf eine Yogamatte zu stellen, drei bis fünf unterschiedliche Kriegerposen einzunehmen und am Ende Shanti-Shanti zu murmeln, ist der Griff zum Entspannung-Roman seltener. Sogar teures Kinderyoga gibt es schon. Dabei beruhigen Bücher mindestens genauso sehr, wie Forschende der New Jersey herausfanden. Sie testeten, ob 30 Minuten Lesen, Lachen und Yoga die Teilnehmer am lockersten machte. Das Ergebnis: Lesen macht genauso lässig wie der Sonnengruß oder eine Reihe guter Witze.
Doch gute Bücher helfen nicht nur Kids mit Stress: Für fast alle Lebenslagen existiert irgendwo ein Romanheld, die bereits dasselbe Problem durchgestanden hat, wie man selbst. Liest man von dessen Kämpfen, ermöglicht das eine neue Sichtweise auf die Situation. Idealerweise können die lesenden Kinder sogar von den Fehlern und Erfolgen der Protagonisten lernen. Das Buch „Die Romantherapie für Kinder“ nennt deshalb in einer Übersicht für die verschiedensten Herausforderungen den passenden Schmöker. Egal ob die Kleinen unter Angst im Dunkeln leiden, Windpocken oder ihren ersten Liebeskummer haben – es gibt immer eine passende Buch-Medizin.
Selbst, wenn ein Kind wenig Empathie hat und deswegen etwa an „Manieren, schlechte“ leidet, kann ein Buch Abhilfe schaffen. In diesem Fall ist es „Paddington Bär“. Der wohlerzogene Bär kann sich nicht nur betragen, sondern auch, ganz unbärenhaft, gut in andere hineinversetzen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 fördert auch der Griff zu einem beliebigen anderen Roman die Empathie-Fähigkeit. Beim Lesen fiebern die Kids mit dem Protagonisten mit und versetzen sich in dessen Lage – egal ob sie den Helden und seine Entscheidungen befürwortet oder als Antihelden in der echten Welt ablehnen würden.
Bücherwurmbestand an Grundschulen geht zurück
Doch trotzdem sind nicht alle Kinder Leseratten. Stattdessen leidet ein Viertel der Kinder an Grundschulen unter Leseschwierigkeiten. Das ist das Ergebnis der internationalen IGLU-Studie 2023. Die Leseleistung der Kinder sei seit 2001, als die Studie erstmals durchgeführt wurde, sogar gesunken. Zudem sei seit Beginn der Studie die Schere zwischen lesestarken und leseschwachen Schülern weiter aufgegangen. Zu welcher dieser Gruppen man gehört, hängt dabei stark vom Bildungsabschluss der Eltern ab.
Es gibt zahlreiche Bemühungen, diesen Trend aufzuhalten: Lesetage werden organisiert, Lese-Initiativen ausgebaut. 2021 entstand sogar ein nationaler Lesepakt. Doch die Anstrengungen reichen noch nicht aus. „Es hat in den vergangenen 20 Jahren zwar schon zahlreiche Bemühungen gegeben, doch zeigt die neueste Studie, dass die gewünschten Wirkungen in weiten Teilen ausgeblieben sind“, konstatiert Nele McElvany von der TU Dortmund.
Lesefähigkeiten im jungen Alter stärken
In anderen Ländern lesen die Kinder schneller und verstehen auch mehr vom gelesenen Text. Außerdem können die bildungsfernen Schüler an Grundschulen dort eher ähnlich gut lesen wie ihre Mitschüler aus Akademikerhaushalten. Dabei gibt es in der Lehre besonders einen entscheidenden Unterschied: Während Kinder im internationalen Durchschnitt im Unterricht rund 200 Minuten pro Woche lesen, sind es in Deutschland gerade einmal 141 Minuten. Das zu ändern, könnte einen wichtigen Schritt darstellen.
Zudem könnten auch Eltern die Lesekompetenz ihrer Kinder fördern, vor allem durch frühes Vorlesen. Jens Brandenburg, Mitglied im Kuratorium der Stiftung Lesen, betont: „Es leistet einen elementaren Beitrag dazu, dass Kinder ihre Bildungschancen voll ausschöpfen können. Regelmäßiges Vorlesen ist nicht nur förderlich für die späteren Sprach- und Lesekompetenzen, sondern auch für die Fantasie und stärkt zudem die Eltern-Kind-Beziehung.“