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So lernen Kinder, sich selbst realistisch einzuschätzen
„Menschen, die ihre Fähigkeiten präziser einschätzen, sind im Schnitt beruflich erfolgreicher, haben höhere Einkommen und leben sogar gesünder“, erklärt Fabian Kosse von der Universität Würzburg, der auf diesem Gebiet forscht. Denn: Wer seine eigenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen besonders gut einschätzen kann, der trifft im Durchschnitt auch bessere Entscheidungen. Wenn mir zum Beispiel bewusst ist, dass Mathematik meine große Stärke ist und ich einen entsprechenden Karrierepfad einschlage, bin ich damit wahrscheinlich beruflich erfolgreicher und verdiene besser, als wenn ich mich für Biologie entschieden hätte.
Und auch abseits der Karriere sind meist diejenigen im Vorteil, die sich und ihre körperliche Verfassung gut einschätzen können. Wenn mir zum Beispiel bewusst ist, dass ich Probleme mit dem Gleichgewicht habe, entscheide ich mich womöglich gegen einen Kletterausflug mit Bekannten, wodurch ich einen Sturz und ein gebrochenes Bein vermeide. Oder ich merke, dass ich nach einer Erkältung noch angeschlagen bin und gehe mein Sportprogramm deshalb ein bisschen ruhiger an, wodurch ich eine Herzmuskelentzündung verhindere.
Kinder aus bildungsfernen Familien sind im Nachteil
Nicht jeder ist gleich gut darin, sich selbst realistisch einzuschätzen. Doch das liegt nicht etwa daran, dass die Fähigkeit dazu zufällig in der Bevölkerung verteilt ist – so wie Charaktereigenschaften oder Haarfarben. Ganz im Gegenteil: Realistische Selbsteinschätzung hat nichts mit der Genetik zu tun, sondern wir müssen sie mit der Hilfe unseres sozialen Umfeldes aktiv lernen. Das geschieht meist schon in der frühen Kindheit. Bei wem die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung wächst und bei wem sie verkümmert, folgt dabei tatsächlich einem messbaren Muster. So ist Kosse und seinen Kollegen im Rahmen einer Langzeit-Studie mit rund 600 Familien aufgefallen, dass sich Kinder aus wohlhabenden, gebildeten Familien im Schnitt besser selbst einschätzen können als jene mit bildungsfernem, einkommensschwachen Hintergrund.
Deutlich macht das ein Murmelspiel, das die Wissenschaftler extra zu dem Zweck konzipiert haben, die Selbsteinschätzung von Grundschulkindern zu ermitteln. Wenn es ihnen gelingt, Murmeln in Löcher zu rollen, werden sie dafür mit Spielzeug belohnt. Die Kinder dürfen selbst über den Schwierigkeitsgrad ihrer Aufgabe entscheiden, indem sie die Größe der Löcher bestimmen. Für das Treffen eines kleinen Loches gibt es zwar die größten Belohnungen, doch treffen die Kinder dieses nicht, gehen sie komplett leer aus. Nur wenn die Teilnehmer sich also selbst gut einschätzen können, sahnen sie ordentlich ab.
Als Kosse und sein Team das Experiment an einer Grundschule durchführten, zeigte sich: „Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status waren erfolgreicher als Kinder aus Familien mit niedrigerem Status.“ Letztere hatten sich im Schnitt häufiger überschätzt. Geblendet von den winkenden Preisen hatten sie häufiger das kleine Loch gewählt und verfehlt.
Gemeinsame Erlebnisse als Schlüssel
Doch woher kommt diese ausgeprägte Schere zwischen hohem und niedrigem Status? Kosse und seine Kollegen vermuten: „Es ist denkbar, dass Eltern mit hohem Sozialstatus ihren Kindern ein reichhaltigeres soziales Umfeld bieten können, das aus häufigeren und vielfältigeren Gelegenheiten besteht, Feedback zu erhalten, und so die Entwicklung der Fähigkeit zur Einschätzung der eigenen Stärken und Schwächen erleichtern.“ In anderen Worten: Nur wenn wir uns in vielen Disziplinen wie Spielen, Basteln, Sport oder Musik ausprobieren und regelmäßig Rückmeldungen über unseren Erfolg erhalten, können wir lernen, unsere eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Wenn ich nie Flöte gespielt oder nie einen Purzelbaum geschlagen habe, kann ich schließlich nicht wissen, ob es mir liegt oder nicht.
Bei Familien mit geringem Einkommen sind die Möglichkeiten für umfangreiche Aktivitäten häufig begrenzt: Sei es, weil für sie das Geld, die Zeit oder der Wille fehlt. Für die Kinder aus solchen Familien hat das zur Folge, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten schlechter einschätzen können und daher im Erwachsenenleben öfter mit mangelndem beruflichem Erfolg, geringerem Einkommen und schlechterer Gesundheit zu kämpfen haben.
Wie bringe ich meinem Kind Selbsteinschätzung bei?
Doch die gesellschaftliche Klasse der Eltern hat nicht immer das letzte Wort, wie Kosse und seine Kollegen in einem zweiten Experiment bewiesen haben. Nach dem Murmelspiel nahmen sie die Hälfte der Kinder aus bildungsfernen Familien in ein spezielles Mentoring-Programm auf. Jedes Kind bekam einen ehrenamtlichen Paten zur Seite gestellt, mit dem es jede Woche ein paar Stunden Zeit verbrachte. Der Pate schenkte ihm seine volle Aufmerksamkeit und sorgte für abwechslungsreiche gemeinsame Erlebnisse.
Und siehe da: Nach einem Jahr war die Selbsteinschätzung der betreuten Kinder so stark nachgereift, dass sie es beim Murmelspiel mit den wohlhabenden Kindern aufnehmen konnten. Daraus schlussfolgert Kosse: „Für die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung ist es entscheidend, Kindern abwechslungsreiche, interaktive Aktivitäten zu bieten, gemeinsam zu spielen, zu basteln, zu musizieren oder Sport zu machen – und ihnen damit aufschlussreiche Erfahrungen zu ermöglichen.“
Wer sich für sein Kind eine realistische Selbsteinschätzung wünscht, sollte also versuchen, mehr solcher Aktivitäten in den Alltag zu integrieren. Wichtig sind aber nicht nur die Erlebnisse an sich, sondern auch die Rückmeldungen, die man dem Kind dabei gibt. Lobt man es für jeden schiefen Ton auf der Flöte, gewinnt das Kind fälschlicherweise den Eindruck, richtig gut darin zu sein, und überschätzt sich womöglich in der Zukunft. Zu harsch muss das Feedback aber auch nicht sein, denn dann kann eine generelle Über- ganz schnell in eine chronische Unterschätzung umschlagen. Ein Mittelweg mit unterstützendem, aber gleichzeitig ehrlichem und realistischem Feedback ist hier also die beste Lösung.
Realistische Selbsteinschätzung bleibt
Das Experiment mit dem Mentoring-Programm verdeutlicht noch einen weiteren Aspekt der kindlichen Förderung. Auch noch sechs Jahre danach – als die betreuten Kinder von damals schon längst als Teenager eine weiterführende Schule besuchten – war ihre präzise Selbsteinschätzung noch spürbar. Die Wissenschaftler konnten beobachten, dass die Gruppe aus dem Mentoring-Programm ihre schulischen Leistungen so realistisch einschätzen konnte wie Gleichaltrige aus bildungsnahen Familien. Wenn man sie danach fragte, wie sie ihre Leistungen in Mathematik und Deutsch einschätzen, stimmte diese Selbsteinschätzung häufig mit den tatsächlichen Leistungen überein. Ein wenig Förderung kann manchmal also langanhaltende Wirkung erzielen.