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35 Jahre Tschernobyl: Der größte Atomunfall der Geschichte

Am 26. April 1986 ereignete sich der bisher größte Atomunfall der Geschichte: Im Atomkraftwerk von Tschernobyl in der Ukraine explodiert ein ganzer Reaktorblock und schleudert Tonnen hochradioaktives Material in die Atmosphäre. Der radioaktive Fallout überzieht halb Europa. Noch heute, 35 Jahre nach dem GAU, geht von der Reaktorruine tödliche Strahlung aus. Und auch abseits der Sperrzone sind noch strahlende Relikte des Unfalls nachweisbar.
NPO, 26.04.2021

Die 2010 bis 2016 für etwa zwei Milliarden Euro erbaute neue Schutzhülle in endgültiger Position über dem havarierten Reaktorblock. Die Betriebskosten sollen etwa 8 Millionen Euro pro Jahr betragen.

GettyImages, Sybille Reuter

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl beruht auf einer Verkettung fataler Umstände – wie oft bei solchen Ereignissen. Schwachstellen im Reaktorkonzept, Sicherheitsverstöße der Bedienmannschaft und Fehleinschätzungen der Situation führen am 26. April 1986 dazu, dass ein Sicherheitstest am Reaktorblock 4 des Kraftwerks plötzlich außer Kontrolle gerät. Eigentlich wollen die Ingenieure nur testen, ob die Turbinen bei einem Stromausfall lange genug laufen, um die Kühlung so lange in Gang zu halten, bis die Diesel-Notstromgeneratoren starten.

Die Explosion

Doch das Experiment geht fatal schief: Um 01:32 Uhr nachts ist der Reaktor so überhitzt, dass der Schichtleiter eine Notabschaltung veranlasst. Aber zu spät. Bevor die Steuerstäbe die Kettenreaktionen stoppen können, ereignen sich zwei schnell aufeinanderfolgende Explosionen aus. Ihre Wucht hebt die rund 3.000 Tonnen schwere Abdeckplatte des Reaktors in die Höhe, zerstört das Dach des Gebäudes und schleudert mehrere Tonnen radioaktiven Kernbrennstoffs vermischt mit verseuchten Trümmern in die Umgebung.

Die Hitze entzündet nun das Graphit und der gesamte Reaktorblock beginnt zu brennen. Der uranhaltige Kernbrennstoff schmilzt und bildet eine glühende radioaktive Lava am Grund des Reaktors – die Kernschmelze ist eingetreten. Der Aufstrom heißer Luft aus dem Reaktor reißt radioaktive Partikel bis zu 2.000 Meter weit in die Höhe. Zehn Tage lang strömen dadurch Cäsium-137, Jod-31, Strontium-90 und 23 weitere Radionuklide nahezu ungehindert in die Atmosphäre.

An der Karte des radioaktiven Niederschlags rund um das Kraftwerk lässt sich erkennen, dass zum Zeitpunkt der Katastrophe vorwiegend südliche bis östliche Winde wehten - daher rührt die vergleichweise starke Falloutbelastung Skandinaviens.

Sting; Bearbeitungen: Luxo, Devil m25, Enricopedia /  CC BY-SA 2.5

Der Fallout

Trotz verzweifelter Versuche, die Brände und die Strahlung unter Kontrolle zu bekommen, dauert es zehn Tage, bis Kraftwerksarbeiter und Militär zumindest die weitere Freisetzung von radioaktivem Fallout halbwegs eindämmen können. Die Bilanz ist fatal: Insgesamt wird nach Schätzungen von Experten eine radioaktive Fracht von gut fünf Trillionen Becquerel freigesetzt. Allein vom radioaktiven Cäsium-137 und Iod-131 sind es die zehnfache Menge des Atomunfalls von Fukushima im März 2011.

Für die Bewohner des Gebiets rund um Tschernobyl hat dies langfristige Folgen: Schon wenige Jahre nach dem Atomunfall und ihrer Evakuierung registrieren Ärzte einen starken Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen. Die Häufigkeit dieser normalerweise unter Kindern seltenen Krebsart schnellt plötzlich auf das bis zu Zehnfache an, rund 5.000 Fälle sind bisher bekannt. Der Grund: Viele Betroffene hatten in den Stunden und Tagen vor ihrer Evakuierung mit radioaktivem Iod verseuchte Milch getrunken. In Bezug auf andere Krebsarten sind die Daten jedoch weniger eindeutig.

Doch auch anderswo hat der Atomunfall Folgen: Der vorherrschende Südostwind bläst den radioaktiven Fallout in den ersten Stunden nach der Explosion nach Nordwesten, wo er über Skandinavien niedergeht. Dann wechselt die Windrichtung und trägt die Wolke nach Mitteleuropa und auf den Balkan. Insgesamt werden 40 Prozent Europas allein durch das freigesetzte Cäsium-137 mit mehr als 4.00 Becquerel pro Quadratmeter kontaminiert. In Süddeutschland erreichen die Werte stellenweise bis zu 75.000 Becquerel pro Quadratmeter. Die International Atomic Energy Agency (IAEA) stuft das Atomunglück von Tschernobyl als ersten Atomunfall überhaupt in die höchste Kategorie sieben ein - damit ist dieses Ereignis offiziell die größte Nuklearkatastrophe der Geschichte.

Blick über Prypjat auf das Kraftwerk. Die bogenförmige Struktur rechts ist das New Safe Confinement für den Reaktorblock 4

GettyImages, MediaProduction

Die Atomruine

Heute ist der zerstörte Reaktorblock 4 von Tschernobyl von außen nicht mehr zu sehen: Innerhalb weniger Monate nach dem Atomunfall wurde die strahlende Ruine in einen wuchtigen Sarkophag aus Stahl und Beton eingeschlossen. 300.000 Arbeiter setzten sich bei diesen Arbeiten und beim Wegräumen kontaminierter Trümmer teilweise enormen Strahlendosen aus.

Aber die Gefahr ist noch nicht gebannt. Denn es lagern mindestens 150 Tonnen des hochradioaktiven Kernbrennstoffs, verschmolzen mit Graphit und Beton, in der Ruine. 40 Prozent des Gebäudes sind so stark verstrahlt und von Trümmern verbaut, dass niemand weiß, wie es dort aussieht. Durch Lücken und Ritzen im ersten, hastig errichteten Sarkophag gelangte zudem ständig radioaktiver Staub nach außen, umgekehrt drang Regenwasser in die Ruine ein. Als Folge sammelte sich im Untergeschoss des Reaktors eine hochradioaktive Brühe an und droht, das Grundwasser zu kontaminieren.

Um diese Gefahr einzudämmen, hat man über dem zerstörten Reaktor eine neue Schutzhülle errichtet. Dafür wurde eine 109 Meter hohe und 162 Meter lange Konstruktion aus Stahlträgern und speziellen Platten aus Verbundmaterial abseits des Reaktors gebaut und dann über den alten Sarkophag geschoben. Die insgesamt gut 35.000 Tonnen schwere Konstruktion wurde dabei mit Hilfe hydraulischer Hebe- und Gleitsysteme in Bewegung gesetzt – sie ist damit das größte bewegliche Gebäude der Welt. Diese neue Schutzhülle soll die strahlende Ruine von Tschernobyl mindestens 100 Jahre dicht einschließen – und damit die Umwelt vor der noch immer im Inneren lauernden Gefahr schützen.

Das Dosimeter zeigt im Zentrum der Stadt Prypjat eine Äquivalentdosis von 0.93 Mikrosievert pro Stunde an. In Deutschland liegt der Durchscnittswert am Boden bei etwa 0,27 Mikrosievert pro Stunde.

GettyImages, Oleg_O

Kontaminiert bis heute

Noch immer ist ein rund 2.200 Quadratkilometer großer Bereich rund um die Reaktorruine von Tschernobyl eine Sperrzone, die Gebiete beiderseits der ukrainisch-weissrussischen Grenze umfasst. Wegen der noch immer hohen Strahlenbelastung darf niemand in dieser Chernobyl Exclusion Zone wohnen. Die ehemals regen Orte Prypjat und Tschernobyl sind heute ausgestorbene, halbverfallene Geisterstädte. Vor allem im Boden, der Laubstreu der Wälder rund um Tschernobyl ist die Strahlenbelastung noch immer hoch.

Diese "schlummernde" Kontamination  kann jedoch wieder aufs neue freigesetzt werden, wenn es zu einem Waldbrand kommt – was in den letzten Jahren zunehmend häufiger im Sommer der Fall ist. Bereits 2015 setzten Feuer in der Sperrzone so viel Cäsium-137 frei, dass die Menge rund acht Prozent des Fallouts nach dem Tschernobyl-Unfall entsprach. Aber auch langlebigere Radionuklide werden vom Rauch aus der Sperrzone in bewohnte Gebiete getragen. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew erhöhte sich dadurch die Strahlenbelastung im Sommer 2015 um rund zehn Millisievert – das entspricht rund einem Prozent der erlaubten Jahresdosis.

Auch in Mittel- und Nordeuropa sind einige Radionuklide  aus Tschernobyl bis heute beispielsweise in Böden Mitteleuropas und im Sediment der Ostsee nachweisbar. Die von ihnen ausgehende Belastung ist aber meist sehr gering. Allerdings gibt es einige Regionen im Süden Deutschlands, in denen Waldpilze etwas höher belastet sein können. Gesundheitliche Folgen seien bei üblichen Verzehrmengen dennoch nicht zu befürchten, betonen Experten.

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