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6. März 2014: Europäischer Tag der Logopädie

NPO

Plakat zum Europäischen Tag der Logopädie
Deutscher Bundesverband für Logopädie

Am 6. März 2014 ist der Europäische Tag der Logopädie. In diesem Jahr stehen dabei Chancen und Probleme der Mehrsprachigkeit im Mittelpunkt. In Deutschland steht der Tag unter dem Motto: "Mehrsprachigkeit: Chancen nutzen!" Viele Eltern nichtdeutscher Herkunft stellen sich die Frage, in welcher Sprache sie mit ihrem Kind reden sollen. Ist die Befürchtung, dass mehrere Sprachen Kleinkinder überfordern, berechtigt? Wie können sie ihre Kinder am besten unterstützen? Bei welchen Anzeichen sollten sie fachlichen Rat einholen und wo können sie sich beraten lassen?

 

 

 

Dr. Wiebke Scharff Rethfeldt, Leiterin des Instituts LOGOCOM in Bremen und Expertin für Mehrsprachigkeit und Interkulturalität, beantwortet einige der Fragen in diesem Interview.

Dr. Wiebke Scharff Rethfeldt
Deutscher Bundesverband für Logopädie

Was bedeutet Mehrsprachigkeit?

Dr. Scharff Rethfeldt: Von Mehrsprachigkeit sprechen wir, wenn ein Kind mehr als eine Sprache regelmäßig in natürlichen Sprachsituationen verwendet. Das heißt nicht, dass es alle Sprachen sprechen muss. Einige Kinder verstehen zwei Sprachen, gebrauchen jedoch nur eine dieser Sprachen aktiv. Auch ist dabei unerheblich, wie gut oder ausgewogen es die Sprachen beherrscht. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten: Manche Kinder wachsen innerhalb ihrer Familie mit mehr als einer Sprache auf, für andere Kinder kommt eine weitere Sprache erst im Laufe der Kindheit innerhalb oder außerhalb der Familie hinzu.

Viele Kinder in Deutschland wachsen bereits früh mit zwei oder mehr Sprachen auf. Manchmal sprechen Eltern unterschiedliche Sprachen mit ihrem Kind und mit dem Eintritt in den Kindergarten kommt eine dritte, hier meist Deutsch, dazu. Auch Alleinerziehende können ihre Kinder mehrsprachig erziehen, vor allem wenn eine weitere Sprache außerhalb der Familie erworben wird. Wächst ein Kind mit älteren Geschwistern auf, erwirbt es das Deutsche meist früh. Der Einfluss von Geschwistern auf den Spracherwerb der Kinder wurde lange Zeit unterschätzt.

Stellt Mehrsprachigkeit generell eine Überforderung für Kinder dar?

Dr. Scharff Rethfeldt: Keineswegs, diese Annahme ist veraltet und seit Jahrzehnten wissenschaftlich widerlegt. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Mehrsprachigkeit für Kinder generell keine Überforderung darstellt. Selbst Kinder mit einer geistigen Beeinträchtigung können von einer mehrsprachigen Erziehung profitieren. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass Mehrsprachigkeit sogar den Beginn neurogenerativer Erkrankungen wie beispielsweise Demenz im Alter hinauszögern kann.

Mehrsprachigkeit an sich ist für ein Kind also kein Problem. Wenn es Probleme gibt, dann eher im Umfeld des Kindes. Zum Beispiel, wenn soziale Problemlagen hinzukommen, wie Armut und Bildungsferne. Diese Faktoren wirken genauso ungünstig auf die Sprachentwicklung bei einsprachigen Kindern, jedoch zeigen uns aktuelle Untersuchungen, dass Familien mit Migrationshintergrund häufiger von derlei sozialen Problemlagen betroffen sind. Problematisch ist auch, wenn die unmittelbaren Bezugspersonen keine guten Sprachvorbilder sind. Beispielsweise weil Eltern, die selbst nur geringe Deutschkenntnisse haben, in bester Absicht mit ihren Kindern Deutsch sprechen, weil ihnen dazu geraten worden ist.

Wie können mehrsprachige Kinder beim Spracherwerb unterstützt werden?

Dr. Scharff Rethfeldt: Im Grunde ist es ganz gleich, ob ein Kind mit einer oder mit mehreren Sprachen aufwächst. Wichtig ist, DASS es sprachlich angeregt wird. Und dies möglichst vielfältig und im zwischenmenschlichen Kontakt. Medien wie Fernseher oder Hörbücher können dies so nicht leisten. Es geht darum, dass ein Kind Sprache an sich entdeckt, als zentrales Medium der Kommunikation, mit dem es sich mitteilen, etwas bewegen und sich einmischen kann. Wächst ein Kind mehrsprachig auf, gilt dies für alle seine Sprachen.

Dabei kann intensive Sprachförderung schon ganz früh beginnen. Intensive Sprachanlässe entstehen spätestens mit ungefähr zwei Jahren, wenn ein Kind das Wort „Nein“ entdeckt hat und sich Eltern in ihrer sprachlichen Argumentation herausgefordert sehen, oder weil sie vieles erklären müssen, weil Kinder anfangen, bohrende Fragen zu stellen. Bei Vorschulkindern sollten die Gespräche schließlich über das Hier und Jetzt hinausgehen, also zunehmend abstrakter werden. Dies kann helfen, das Kind für den eher abstrakten Unterricht im Klassenraum sprachlich vorzubereiten. Kinder beginnen im Vorschulalter beispielsweise damit, Bezugspersonen nach dem Sinn oder der Bedeutung von etwas Abstraktem wie Gott, dem Weihnachtsmann, Liebe oder Tod zu fragen.

Diese wichtige Form der Sprachförderung im Gespräch können Eltern am besten in der Sprache leisten, die sie selbst am besten beherrschen. Insofern sollte anderssprachigen Eltern nie geraten werden, eine Fremdsprache, und sei es für sie Deutsch, in der direkten Kommunikation mit ihrem Kind zu verwenden. Das, was ein Kind einmal begriffen hat, kann es später leichter in eine andere Sprache übertragen.

Wie können Probleme besser und frühzeitiger erkannt werden?

Dr. Scharff Rethfeldt: Die Tests, die derzeit in allen Bundesländern im Kindergartenalter durchgeführt werden, berücksichtigen die Sprachentwicklungsbedingungen sowie die besondere Situation mehrsprachiger Kinder oft nicht oder nur unzureichend. Zudem können die eingesetzten Verfahren keine therapiebedürftige Sprachentwicklungsstörung identifizieren. Überdies sollte bei jedem sprachauffälligen Kind frühzeitiger abgeklärt werden, ob möglicherweise eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Je früher diese behandelt wird, desto erfolgreicher kann die Therapie für das Kind sein.

Insofern sollten die besonderen Bedingungen des Mehrspracherwerbs auch im Rahmen der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen berücksichtigt werden. Auch hier sind die Untersuchungsinstrumente bislang nicht auf sprachlich und kulturell unterschiedlich aufwachsende Kinder ausgerichtet. Dies wird mehrsprachigen Kindern nicht gerecht.

Betrifft eine Sprachentwicklungsstörung bei einem mehrsprachigen Kind  alle Sprachen?

Dr. Scharff Rethfeldt: Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern betreffen immer alle Sprachen. Dies unterscheidet Störungen von Sprachauffälligkeiten, die sich als mangelnde Deutschkenntnisse zeigen.

Wie kann festgestellt werden, ob eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt?

Dr. Scharff Rethfeldt: Für die Diagnostik mit einsprachig deutsch aufwachsenden Kindern sind Logopäden gut aufgestellt. Auch liegen standardisierte Instrumente vor, die auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Sprachentwicklung im Deutschen speziell konzipiert wurden. Für mehrsprachige Kinder liegen solche Verfahren jedoch nicht vor. Auch steckt die Grundlagenforschung dazu noch in den Kinderschuhen. Mehrsprachigkeit selbst ist so etwas wie eine eigene Disziplin, wie der Hürdenlauf in der Leichtathletik. Schließlich würde man in der Leichtathletik nie auf die Idee kommen, die Sprungleistung eines Hürdenläufers mit der eines Hochspringers zu vergleichen. Mit anderen Worten: es kann zu Fehldiagnosen kommen, wenn man Testverfahren einsetzt, die für einsprachige Kinder konzipiert wurden. Das ist sozusagen die schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht ist, dass wir Logopäden über die grundlegenden therapeutischen Handlungskompetenzen verfügen, um das methodische Problem lösen zu können. Dabei stehen die grundlegenden Sprachfähigkeiten im Vordergrund und nicht das Vokabelwissen oder die grammatische Wohlgeformtheit von Sätzen im Deutschen.

Quelle: Deutscher Bundesverband für Logopädie

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