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Alltags-Kunst: Das verraten Tisch-Kritzeleien über uns

Ob im Hörsaal, beim Telefonieren oder in Meetings: In vielen Situationen ertappe wir uns dabei, dass wir auf Papier herummalen. In Schulen und Universitäten zeugen viele bekritzelte Tische von solchen Nebenbei-Malereien. Was aber steckt dahinter? Warum malen wir beim Zuhören oder Denken so häufig und was verraten die Alltags-Kritzeleien über uns? Das haben nun Psychologen näher untersucht.
NPO / Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe, 27.08.2021

Studierende aus mehrere Jahrzehnten haben diese Kritzeleien auf den Hörsaaltischen hinterlassen.

Timo Schäferkordt

Ob geometrische Formen, Blütenmuster oder Karikaturen: Wenn wir bei einem Meeting, in der Schule oder an der Universität sitzen, beginne wir oft unwillkürlich, herumzukritzeln. Wie zeichnen auf der Schreibunterlage oder einem Block herum, malen Buchstaben oder abstrakte Formen.  Typischerweise entstehen solche kleinen Kunstwerke des Alltags, während unser Kopf gerade mit anderen Dingen beschäftigt ist.

Kritzelkunst im Uni-Hörsaal

Was aber steckt hinter den Kunstwerken auf Tischen und Notizzetteln und was passiert dabei in unserem Kopf? Das haben nun Psychologen der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe näher untersucht. Konkreter Anlass dafür war ein Hörsaal, der saniert werden sollte. Im Laufe von Jahrzehnten haben Studierende der Medienproduktion auf den Tischen und Stühlen des Hörsaals unzählige kleine Kunstwerke hinterlassen. In Vorlesungen und Seminaren haben sie die Tische in ihrem Hörsaal mit bunten Zeichnungen, Sprüchen und Liebeserklärungen bemalt.

"Diese Tische sind in gewisser Weise ein Dokument der Zeitgeschichte, deshalb werden wir sie auf jeden Fall aufbewahren, auch wenn unsere Studierenden jetzt in neue Hörsäle und Seminarräume nach Detmold ziehen, die übrigens gerne noch eine längere Zeit neu aussehen dürfen“, erklärt Guido Falkemeier, Dekan der Medienproduktion. Die schönsten Tisch-Kunstwerke aus den vergangenen Jahrzehnten wurden nun fotografiert und sind in einer Online-Ausstellung zu bewundern.

Manche Kritzeleien sind wahre Kunstwerke.

Timo Schäferkordt

Wer kritzelt, ist konzentriert

Was aber sagt es über uns aus, wenn wir beim Zuhören unwillkürlich rumkritzeln? Viele Vortragende und Lehrende sind eher wenig begeistert, wenn sich ihre Schüler und Studenten auf dem Mobiliar verewigen. Schließlich sollen sie konzentriert der Vorlesung lauschen, statt die Tische zu bemalen. Und die Kritzelei spricht eher für Langweile und Ablenkung – oder doch nicht?

Nicht unbedingt, erklärt der Psychologe: "Wer kritzelt, ist nicht zwangsläufig unaufmerksam, im Gegenteil. Wenn wir in einem Vortrag oder beim Telefonieren kritzeln, kann das sogar die Konzentration steigern", sagt Michael Minge, Professor für Innovationspsychologie an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe.  Aufmerksamkeit und Herummalen sind daher nicht unbedingt Gegensätze.

Stattdessen hilft das Kritzeln sogar, bei der Sache zu bleiben. Wie der Psychologe erklärt, aktivieren wir die Prozesse, mit denen wir Inhalte verarbeiten und wirken dem Abschweifen der Gedanken eher entgegen. "Studien belegen beispielsweise, dass die Gedächtnisleistung während des Kritzelns sogar um 30 Prozent gesteigert werden kann. Was bedeutet, dass man die Gedächtnisinhalte, die während des Kritzelns entstehen, nach ein paar Tagen um 30 Prozent besser abrufen kann", so Minge.

 

Was verraten die Motive der Kritzeleien?

Ein typisches Merkmal von Kritzeleien auf Tischen und Notizblöcken sind geometrische Figuren und florale Muster. Die finden sich auch auf den Hörsaal-Tischen zuhauf. Beide Formen haben eine Funktion: „Wer geometrische Formen malt, setzt sich intensiv mit einem Problem oder einer Fragestellung auseinander und versucht Struktur hineinzubringen", erklärt Minge. Einige geometrische Figuren wie beispielsweise Kästchen mit dunkler und heller Füllung können auch auf Entscheidungsprobleme hindeuten.

Blumen-Motive sind dagegen eher ein Ausdruck der Stimmung – sie vermitteln eine positive Haltung. "Entweder befindet sich die Person schon in einer positiven Stimmung oder sie möchte sich durch das Zeichnen gerne in eine solche Stimmung versetzen“, sagt der Psychologe. Ein weiteres häufiges Motiv ist ein stilisiertes Auge, das sich auch auf den Hörsaal-Tischen mehrfach wiederfindet. "Das Augenmotiv vermittelt gewissermaßen einen kritischen Blick auf sich selbst aber vielleicht auch auf ein bestimmtes Thema", so Minge.

Den eigenen Namen zu hinterlassen ist ein menschliches Bedürfnis.

Timo Schäferkordt

"Ich war hier"

Noch häufiger aber als abstrakte oder florale Muster sind Namen und Buchstaben als Kritzelmotive. Dies führt der Psychologe auf den unbewussten oder auch bewussten Wunsch zurück, sich zu verewigen, individuelle Spuren zu hinterlassen. Diese Bedürfnis ist wahrscheinlich schon so alt die Menschheit selbst, wie steinzeitliche Höhlenmalereien bezeugen.

„Es ist ein wichtiges menschliches Bedürfnis, sich zu verewigen, zu dokumentieren: Ich war hier. Ganz gleich, ob mit vollem Namen oder mit Initialen“, erklärt Minge. „Oftmals kommt die Person nach langer Zeit an den Ort zurück, an dem sie ihren Namen hinterlassen hat. Und es gelingt ihr sehr gut, sich in die damalige Zeit zurückzuversetzen oder sich genau an die Situation zu erinnern. Ein schönes Beispiel hierfür ist das Herz von zwei Verliebten, eingeritzt in einen Baum.“

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