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Als die Giftwolke kam

Seveso ist eine kleine Gemeinde in der Lombardei, 19.000 Menschen leben in diesem Ort unweit vom norditalienischen Mailand. Und es würde wohl kaum jemand außerhalb der Region seinen Namen wissen, wenn sich nicht vor 30 Jahren einer der schlimmsten Chemieunfälle des 20. Jahrhunderts dort ereignet hätte.

von Iris Hilberth, wissen.de

Am 10. Juli 1976 explodierte in Seveso die Chemiefabrik „Icmesa“, die dem Schweizer Konzern Hoffmann-La Roche gehörte. Eine Giftwolke verbreitete sich über Seveso, über Meda und die Umgebung und verseuchte die Gegend. Erst 13 Tage nach dem Unfall wurde offiziell bekannt gegeben: es hatte sich um das hochgiftige Dioxin TCCD gehandelt, das hier entwichen war. Todesopfer gab es offiziell keine, allerdings litten 193 Menschen, meist Kinder, an einer schweren Hautkrankheit der so genannten Chlorakne. 447 weitere Bewohner der Region mussten wegen Hautverätzungen behandelt werden.

Der 10. Juli 1976 war ein Samstag, ein trockener und heißer Sommertag. In der Chemiefabrik, von der die Bevölkerung nur wusste, dass hier Parfüms und Kosmetika hergestellt wurden, erhitzte sich ein grauenvolles Gemisch. Es ging um die Herstellung von Desinfektionsmittel, ein gutes Geschäft. So gut, dass die hergestellt Menge ständig gesteigert wurde, allerdings auf Kosten der Sicherheit. Denn die Arbeiter waren nur mangelhaft ausgebildet und ständig anderen Abteilungen zugeteilt. Bereits am Freitag, 9. Juli, arbeitete man bei Icmesa unter Druck, die Produktion wurde noch einmal gesteigert, doch notwendige Kühltemperaturen anscheinend nicht eingehalten. Ein Mitarbeiter hatte das Rührwerk abgeschaltet, und so stieg die Hitze im Kessel wegen der fehlenden Durchmischung weiter an. Am Samstag um 12.37 Uhr platze dann ein Sicherheitsventil, aus dem Reaktor in der Produktionshalle B entwich eine Gaswolke mit dem hochgiftigen Dioxin. Es roch nach „faulen Eiern und Desinfektionsmittel“, nach „Medizin“, auch habe man ein ohrenbetäubendes Pfeifen gehört, erzählten Zeugen der Explosion. Schon am nächsten Morgen traten bei mehreren Kindern die Symptome einer Hauterkrankung auf. Chlorakne führt zu Pustelbildung und Knoten auf der Haut, das Gesicht wird entstellt.

Allerdings dauerte es, bis die Behörden reagieren. Obwohl Bäume ihre Blätter verloren, Hühner, Kaninchen und Katzen plötzlich verendeten, riet man der verängstigten Bevölkerung zunächst lediglich, kein Obst und Gemüse aus dem Garten zu essen. Erst am 17. Juli wurde die Fabrik geschlossen, erst  16 Tage nach dem Unglück die Häuser im direkten Umfeld evakuiert. Zunächst mussten 200 Menschen ihre Wohnungen verlassen, später noch mal 500. Zehntausende Tiere wurden notgeschlachtet. Die Untersuchungen ergeben schließlich: 19.000 Hektar Land war verseucht. Die Häuser von rund 800 Menschen wurden abgerissen.

Im Herbst 1976 begannen die Entseuchungsarbeiten, der giftige Schutt wurde in verstärktem Beton vergraben. Erst 1982 machte sich die Firma Mannesmann-Italia auch an die Aufräumarbeiten in dem Gebäude mit dem Havariekessel. Der Inhalt des Kessels kam in 41 Fässer, die auf Lastwagen zur Entsorgung nach Frankreich gebracht werden sollte. Doch die Fässer verschwanden zunächst spurlos und tauchten erst ein Jahr später auf einem ehemaligen Schlachthof in Frankreich wieder auf. 1985 wurde ihr Inhalt verbrannt.

Heute ist das „Sperrgebiet A“ in Seveso ein Naherholungsgebiet. Dort wo die „Fabrik der Düfte“, wie die Bevölkerung die Icmesa nannte, stand, gibt es jetzt ein Sportzentrum, über der Sondermüllhalde wächst der „Bosco delle Querce“, ein Eichenwald. Nach eigenen Angaben hat der Konzern Hoffmann-La Roche mehr als 300 Millionen Franken für Entschädigungszahlungen, Prozesskosten und die Abtragung der verseuchten Erde aufgewendet.

In Sachen Sicherheit wurde Seveso zum Wendepunkt in der europäischen Politik. 1982 verabschiedete die EU die „Seveso-I-Richtlinie“, die besagt, dass Industriebetriebe, die mit bestimmten Mengen an Gefahrenstoffen umgehen, die Risiken systematisch analysieren und abstellen müssen. Als vier Jahre später ein Feuer in der Sandoz-Fabrik in Basel den Rhein stark verschmutzte, wurde der Umgang und die Lagerung von gefährlichen Substanzen mit „Seveso-II“ geregelt. Die Vorschriften wurden 2003 verschärft, die Betreiber von Industrieanlagen sind seitdem verpflichtet, Notfallpläne auszuarbeiten.

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