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Angst, Panik, Phobie: wenn die Seele Alarm schlägt

Ängste kennt jeder. Und jeder hat seine ganz speziellen, der eine kleinere, der andere größere. Das ist auch gut so, denn Angst ist eine natürliche Funktion, sie soll uns vor Gefahren schützen. Nun gibt es aber Menschen, die fürchten sich vor Situationen, die gar keine Gefahr bergen. Sie leiden an einer Phobie. Was umtreibt diese Menschen? Oder vielmehr: Was hat sie dazu getrieben? Und vor allem: Wie wird man eine Phobie wieder los?
von wissen.de-Autor Jens Ossa

„Ich werde nicht an einem Dienstag sterben"

Wenn die U-Bahn Angst macht
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Der Tag beginnt verhältnismäßig normal für Stefano Dalla (Name geändert). So normal, wie ein Tag eben beginnen kann, wenn die Welt um einen herum gerade zusammengebrochen ist – Freundin weg, Job weg, neue Wohnung, neues Umfeld. Ein Lebensabschnitt ist Geschichte geworden.

Als der damals 32-jährige an jenem Tag die S-Bahn betritt, denkt er sich nichts dabei, warum auch. Doch dann schließen sich die Türen, die Bahn fährt an. Was nun mit einem beklemmenden Gefühl beginnt, weitet sich rasch aus. Stefano beginnt hektisch zu atmen, verspürt kalten Schweiß auf der Stirn, gerät in Panik. „Ich war mir sicher: Wenn du hier nicht rauskommst, überlebst du das nicht“, sagt er. „Genau genommen fürchtete ich, meine Angst würde dermaßen ausufern, dass ich an einer Herzattacke sterbe. Diese Angst vor der Angst war tausendmal stärker als jede andere, die ich je zuvor gespürt hatte.“

In seiner Not redet sich der Drehbuchautor ein, er werde nicht an einem Dienstag sterben – ist jener Tag doch ein Dienstag. Ein wahnwitziges Hilfsmittel, aber immerhin gelingt es ihm so, sich bis zum nächsten Bahnhof zu retten, ohne durchzudrehen oder zusammenzubrechen.

Nach diesem Erlebnis meidet Dalla U- und S-Bahnen und steigt auf den Bus um. Doch auch hier tritt das Phänomen auf. Es folgen Schlangen vor Kassen, Supermärkte schlechthin, Bars, Tunnel … Selbst im Auto überkommt ihn Panik, wenn er hinten sitzt. Besonders kritisch wird es, als er in einem Flugzeug sitzt, dessen Start sich über mehrere Minuten verzögert – eine quälende Wartezeit, die Dalla schließlich zuviel wird. Er bittet die Flugbegleiterin, die Türen noch einmal zu öffnen, und verlässt fluchtartig die Flugkabine.

Daraufhin zieht sich Dalla in seine vier Wände zurück und meidet so gut wie jede Räumlichkeit außerhalb seines Zuhauses. „Ich habe nicht nur viele soziale Kontakte verloren, sondern mein komplettes soziales Leben. Ist doch blöd, wenn du zum Beispiel eine Party besuchen willst, aber draußen stehen bleiben musst.“

Seinen Tiefpunkt erreicht der Mann in einem dreitägigen Heulkrampf, begleitet von heftigen Bauchschmerzen. Inzwischen ist ihm klar: Er leidet an Klaustrophobie, an Raumangst. Im Anschluss unternimmt er Versuche, sich selbst zu heilen, scheitert aber. Dazu muss man nämlich wissen, woher die Ängste kommen, wie er später erfahren wird. Um sein Leben wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, kauft sich Dalla ein Fahrrad, aber auch das löst das Problem nicht.

 

Enger Zusammenhang mit der Lebenssituation

Endlich, vier Jahre nach seiner ersten Panikattacke an jenem Dienstag in der S-Bahn, sieht Stefano ein, dass es so nicht weitergehen kann. Er fasst den Entschluss, professionelle Hilfe zu suchen.

„Ein ungewöhnlich kurzer Zeitraum“, findet Nikolas Kahlke, Chefarzt im Psychiatrischen Krankenhaus Ricklingen, Schleswig Holstein. „Im Durchschnitt leben Angstpatienten zehn Jahre mit quälenden Symptomen, bevor sie begreifen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, und diesen Schritt wagen.“

Nach ersten Gesprächen mit einem Psychologen wird Stefano Dalla klar, dass der Ausbruch seiner Phobie in engem Zusammenhang mit seiner damaligen Lebenssituation stand. „Es war ja gleich eine ganze Reihe von Ereignissen, die mir den Boden unter den Füßen weggerissen haben.“

Den Zusammenhang bestätigt auch Kahlke: „Es existiert die Theorie, dass unbegründete Ängste, wie sie bei Phobien auftreten, ursprünglich einen Überlebenszweck hatten. Demnach war es durchaus angemessen, dass unsere Vorfahren in Stresssituationen auf die Umwelt verstärkt reagierten, sozusagen in generelle Alarmbereitschaft gesetzt waren. Dieses Alarmiertsein ergibt zwar heute kaum noch Sinn fürs Überleben, findet aber im Gehirn noch statt. Ein archaisches Moment also, das noch in uns steckt und durch Stress ausgelöst werden kann. Somit hat es eine Phobie umso leichter, je schlechter die Lebensumstände sind.“

 

Anderthalb Jahre Therapie

Für Dalla geht es mit einer Verhaltenstherapie, einem so genannten Konfrontationsverfahren weiter. „Wir begannen mit dem Bus. Zwei Stunden sind wir hin und her gefahren, ich dachte, mein Therapeut will mich umbringen. Als Nächstes nahmen wir uns den Fahrstuhl vor, rauf und runter. Dann die S-Bahn und so weiter. Für alles, was ich bis dahin vermieden hatte, waren vier mal zwei Stunden angesetzt. Den Supermarkt hatte ich allerdings schon nach einem Treffen im Griff. Während der Behandlungseinheiten musste ich anhand einer Skala von eins bis zehn angeben, wie stark ich meine Angst einschätzte. Am Anfang sagte ich spaßhalber ‚elf’, obwohl mir eigentlich nicht nach Spaßen zumute war. Aber der Pegel schwächte allmählich ab.“

Gut anderthalb Jahre dauert die Therapie. Dalla betrachtet sich heute im Großen und Ganzen als geheilt, geht sogar ins Fußballstadion – vorher undenkbar. Einen Rest Tunnelangst habe er immer noch, sagt er. „Aber ich meide Tunnel nicht mehr. Dennoch bete ich jedes Mal, dass kein Stau kommt, wenn ich hindurchfahre. In kritischen Situationen weiß ich inzwischen, dass die Attacken vorbeigehen. Mein Psychotherapeut hat mir die Angstkurve erklärt. Die steigt und fällt, darauf kann man sich eigentlich immer verlassen. Allein das zu wissen, hilft ungemein.“

 

Der Wunsch nach Änderung

„Für die Entwicklung einer Phobie spielen verschiedene Komponenten eine Rolle“, erklärt Nikolas Kahlke. „Da ist einmal die Veranlagung. Betroffen sind Menschen, deren vegetatives Nervensystem mit dem limbischen System besonders stark verknüpft ist. Dieses reguliert vereinfacht gesagt die Emotionen. Veranlagte Menschen neigen zu innerer Anspannung, der Volksmund nennt sie auch ‚dünnhäutig'. Zum anderen gibt es die Überlegung, dass schlimme Erlebnisse in der Vergangenheit oder alltägliche Angstsituationen in der Kindheit hängen geblieben sind und eine Tür aufgestoßen haben, die sich nicht wieder schließt.“

Als Folge einer Phobie beginnen Betroffene, Situationen zu vermeiden, die die Angstanfälle auslösen. Das geht zuweilen so weit, dass sie Situationen meiden, von denen sie lediglich befürchten, sie könnten auslösend sein. Ein Umstand, unter dem ein normales Leben kaum noch möglich ist.

Heilung verspricht wie im Fall von Stefano Dalla die Konfrontationstherapie, in der man sich den fraglichen Situationen nähert. „Am Anfang jedoch muss der Wunsch stehen, dass sich etwas ändert“, sagt Kahlke. „Ein Gespräch mit dem Psychotherapeuten klärt zunächst, was überhaupt los ist. Aufklärung ist enorm wichtig, bereits das Erkennen kann die Angst blockieren.“ Wichtig aber auch ist es, einen Therapeuten zu finden, zu dem man ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann. Denn Vertrauen ist das A und O einer guten Therapie.

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