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Anschwimmen

Kurzgeschichte von John von Düffel

JOHN VON DÜFFEL, BERND HOFFMANN, DT. LITERATURARCHIV: BILDABTEILUNG/FOTOSTELLE

Es ist kalt ohne T-Shirt. Die Sonne verzieht sich hinter dünnen Schleierwolken, kraftlos und noch immer sehr fern. Ich stehe in Badehose am Ufer, die Arme vor der Brust gekreuzt, und schaue auf den See. Vor mir die graublaue Glätte des Wassers, unberührt, bleiern, beinahe verschlossen, so als hätte der See nach dem Schmelzen der Eisdecke eine Haut behalten. Es ist Frühsommer.

Ich gehe ein paar Schritte weiter ans Ufer. Eine dunkle Kühle steigt vom Wasser herauf wie aus einem tiefen Keller. Der Sand zwischen meinen Zehen ist körnig und feucht. Wind von irgendwoher, der die Haut des Sees kräuselt und das Laub der Pappeln am Ufer auf seine silbrigen Seiten dreht. Ich fröstele ein bisschen und weiß nicht, ist es tatsächlich so frisch oder friere ich nur bei dem Gedanken, einzutauchen in dieses kühle, unergründliche Nass. Anschwimmen heißt die Devise. Ich stehe wie ein Kind vor meinem Schwimmausflug ins offene Gewässer, dem ersten in diesem durchwachsenen Jahr. Die Wassertemperatur beträgt kaum mehr als 14 Grad.

Vielleicht wäre ich doch besser ins Hallenbad gegangen, durchzuckt es mich, während ich mich bis zur Hüfte in die gläserne Kälte des Uferwassers schiebe. Bruchstückhafte Erinnerungen an das domestizierte Wasser, in das ich stattdessen steigen könnte, farblos zwischen blauen Kacheln, umschlossen von Chlordunst und feucht-warmer Luft Bedingungen alles in allem, die den Grad von Überwindung beim Wechsel in das andere Element auf ein Minimum reduzieren. Noch könnte ich umkehren, doch dann tauche ich die Arme in den See und klatsche mir das kalte Wasser auf die Brust. „Hinterher“, beschwöre ich mich, „hinterher fühlst du dich besser!“ Es ist die einzige Wahrheit in Sachen Schwimmen, auf die immer Verlass war. Ich tauche ein.

Es dauert fünfundzwanzig, dreißig Züge, bis sich meine Atmung normalisiert hat. Stechende Kälte um die Schläfen wie ein feiner, singender Kopfschmerz. Mein Körper verbrennt in diesem See. Ich keuche riesige Quallen von Atemluft hervor, tonlose Schreie unter Wasser, dann lösen sich allmählich die Beklemmungen und Kältegürtel um die Brust. Ich werde ruhiger. Der mir so vertraute Rhythmus stellt sich ein. Meine Schläge treffen, sich selbst wiederholend, auf die schiefergraue Oberfläche. Ein paar Sonnenstrahlen erleuchten den Ufersaum und tauchen vor mir in die sandige Tiefe. Ich bin auf dem Weg. Ich bin da.

Und auf einmal weiß ich, was mir den ganzen Winter über gefehlt hat: die Vielfarbigkeit des offenen Wassers, der Geschmack von Sand, Laub und Luft, der leichte Wellenschlag, den der Wind mir entgegentreibt, und die weiten Flächen geriffelten Lichts. Unvorstellbar von nun an, in die Hallenbäder zurückzukehren und sich all das entgehen zu lassen, die Wildheit des Wassers und das Wechselspiel zwischen den Phantasien der Tiefe und der berauschenden Helligkeit des Himmels, der auf dem Wasser liegt.
Was mich anfangs abgeschreckt hat, erscheint mir jetzt als das Schönste überhaupt. Die Kälte hat sich in Klarheit verwandelt, die Unnahbarkeit des Wassers wird zu der erfrischenden Einsamkeit dieses Sees, in den ich meinen Atem mische wie ein Tiefseetaucher, der auf dem Meeresgrund seine Luftblasen ausstößt, gleichmäßig, rhythmisch, inmitten einer weiträumigen, von Wasser umhüllten Stille.
Ich schwimme meine Strecke mit Inbrunst zu Ende, schwimme weit über sie hinaus und drehe mich am Ufer noch einmal um für einen letzten Blick zurück auf den See. Ich hatte recht: Hinterher fühlst du dich besser! Mehr als das.

John von Düffel

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