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AstraZeneca: Was steckt hinter den Komplikationen?

In Deutschland und anderen europäischen Ländern wurden die Corona-Impfungen mit dem AstraZeneca-Vakzin vorübergehend gestoppt. Der Grund sind einige Fälle einer seltenen Form von Blutgerinnseln im Gehirn, die bei Patienten nach der Impfung aufgetreten sind. Was aber ist diese sogenannte Sinusvenenthrombose, wie oft kommt sie vor und welche HInweise gibt es auf einen Zusammenhang mit der Corona-Impfung?
NPO, 17.03.2021

Impfstoff-Ampulle des Herstellers AstraZeneca

GettyImages, digicomphoto

Der AstraZeneca-Impfstoff wird seit Jahresbeginn in zahlreichen europäischen Ländern gegen Covid-19 eingesetzt. Er besteht aus einem für uns Menschen harmlosen Trägervirus, das die Bauanleitung für die Spike-Proteine des Coronavirus SARS-CoV-2 trägt. Zwar gab es schon in der klinischen Phase-3-Studie einige Ungereimtheiten wegen einer Dosisverwechselung, dennoch hat das Vakzin im Januar 2021 eine Zulassung in der EU erhalten.

Doch jetzt steht der AstraZeneca-Impfstoff im Verdacht einer schweren, wenn auch seltenen Nebenwirkung. Deutschland, Italien, Frankreich und einige andere Länder haben deshalb die Impfung mit diesem Vakzin vorübergehend gestoppt. Anlass dafür sind in Deutschland sieben Fälle eines seltenen Blutgerinnsels im Gehirn, die nach der Corona-Impfung aufgetreten sind und dem Paul-Ehrlich-Institut gemeldet wurden.

Was ist eine Sinusvenenthrombose?

Bei dieser Thrombose handelt es sich um eine sogenannte Sinusvenenthrombose – ein Blutgerinnsel, das sich an einer der Zusammenflüsse der Venen in der harten Hirnhaut gebildet hat. Die Verstopfung dieser venösen Blutleiter kann Schlaganfälle auslösen. Durch die Sinusvenenthrombose steigt der Druck im Adersystem des Gehirns und es kann zu Blutungen kommen. Symptome der Erkrankung können zunächst Sehstörungen und Druckgefühl im Augenwinkel sein, dann zunehmend schwere Kopfschmerzen. Später können epileptische Anfälle, Fieber, Lähmungen und Bewusstseinstrübungen folgen. Im Extremfall führt die Sinusvenenthrombose unbehandelt zum Tod.

Typischerweise tritt eine Sinusvenenthrombose bei Neugeborenen sowie bei Erwachsenen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren am häufigsten auf. Auslöser können eitrige Infektionen im Gesichtsbereich, aber auch eine Hirnhautentzündung oder angeborene Störungen der Blutgerinnung sein. Auch Dehydrierung, chronische Entzündungskrankheiten, Nierenprobleme oder eine Schwangerschaft können das Risiko erhöhen. Ähnliches gilt für einige Medikamente sowie hormonelle Verhütungsmittel und Hormon-Dysbalancen. Frauen sind daher rund dreimal häufiger betroffen als Männer.

Vermehrte Thrombosen durch den Impfstoff?

Insgesamt gilt die Sinusvenenthrombose als sehr selten: Mediziner rechnen mit zwei bis fünf Fällen pro einer Million Menschen – auch wenn die genaue Häufigkeit wegen einer möglichen Dunkelziffer unklar ist. "Eine Studie in Australien stellte 15,7 Fälle pro einer Million und Jahr fest, eine weitere in den Niederlanden 13,2 Fälle pro Million Menschen und Jahr", berichtet Paul Hunter von der University of East Anglia.

Die aktuell in Deutschland festgestellten sieben Fälle auf 1,6 Millionen mit AstraZeneca geimpften Personen entsprechen einer Häufigkeit von 4,5 pro einer Million. Das liegt am oberen Rand der allgemein angenommenen Häufigkeit für diese Thromboseform. Von den betroffenen Personen sind laut Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts drei gestorben. Alle sieben Fälle traten mehrere Tage nach der Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff auf und wurden daher routinemäßig als mögliche Nebenwirkung erfasst und gemeldet. Näheres zu Alter und Geschlecht der Erkrankten wurden jedoch nicht veröffentlicht.

Wie wahrscheinlich ist ein Zusammenhang?

Ob es sich bei den aktuellen Fällen der Sinusvenenthrombose um eine Nebenwirkung der Impfung handelt oder nur um ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen ist noch unklar. Genau dies sollen nun nähere Analysen der Erkrankungsumstände klären. Deshalb haben sich einige Länder wie Deutschland, Frankreich, Dänemark und Italien dazu entschlossen, die Impfungen mit AstraZeneca auszusetzen, bis es mehr Informationen gibt.

"Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem Symptom und einer Impfung herzustellen oder zu belegen, ist immer ganz, ganz schwierig", erklärt Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. "Eine auffällige Häufung von bestimmten Symptomen in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung heißt erst einmal nicht, dass wirklich ein Kausalzusammenhang besteht. Dasselbe Symptom hätte auch auftreten können ohne die Impfung. Die kausale Verknüpfung ist hier völlig offen."

Bekannt ist allerdings, dass Patienten mit Covid-19 ein erhöhtes Risiko für Thrombosen und auch für eine Sinusvenenthrombose haben. Denn sowohl das Coronavirus als auch die Immunreaktion auf die Infektion beeinflussen die Blutgerinnung und lösen Entzündungsreaktionen in den Blutgefäßen aus. Ob aber auch die Impfung eine solche Reaktion auslösen kann, ist völlig offen. Die Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) analysiert die in Europa aufgetreten Fälle zurzeit.

Und was ist mit Großbritannien?

Merkwürdig ist allerdings, dass es in Großbritannien, dem Land mit bisher am Abstand den meisten AstraZeneca-Geimpften, bisher keinerlei Hinweise auf eine Häufung von Thrombosen oder Sinusvenenthrombosen gibt. "Mehr als elf Millionen Dosen des AstraZeneca-Vakzins sind in Großbritannien verabreicht worden und die Zahl der Blutgerinnsel nach der Impfung ist nicht höher als das, was auch natürlicherweise in der geimpften Bevölkerung auftreten würde", kommentiert Phil Bryan, Leiter der Impfstoff-Sicherheitsabteilung der britischen Arzneimittelbehörde MHRA.

Konkret hat es in Großbritannien bisher drei gemeldete Fälle einer Sinusvenenthrombose nach Impfung mit AstraZeneca gegeben. Bei elf Millionen Dosen entspricht dies einer Inzidenz, die weit unter der allgemein angenommenen liegt. "Im Fall von Großbritannien kann man ganz sicher sagen, dass dort keine besondere Häufung besteht. Die Frage ist: Ist in Deutschland eine ungewöhnliche Häufung aufgetreten? Auch hier lässt sich das derzeit nicht sicher beantworten", sagt Berlit.

Was bedeutet dies für die Impfkampagnen?

Sowohl die Weltgesundheitsorganisation WHO als auch die britische Arzneimittelbehörde und die Internationale Gesellschaft für Thrombose haben bislang für eine Weiterführung der Impfungen mit AstraZeneca plädiert. Denn jeder Impfstopp bremst den Kampf gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 und löst Verunsicherung aus. Dennoch sind sich die Experten einig, dass das Auftreten der Sinusvenenthrombosen nach den Impfungen genau untersucht werden muss.

"Die mögliche Assoziation der Impfung mit dieser Thrombose muss gründlich untersucht werden", sagt auch Paul Hunter. "Wir müssen aber die wahre Gefahr durch diese Verzögerungen der Impfkampagnen im Blick behalten, wenn wir darüber entscheiden, ob wir in einer Zeit steigender Inzidenzen von Covid-19 in vielen europäischen Ländern die Impfungen stoppen."

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