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Auf Tauchstation mit dem Killer der Meere

Ich hätte es weltweit in die Schlagzeilen schaffen können. Das Bein ab, der Arm zerfetzt: Ich wäre eine Berühmtheit geworden. ,,Frau von Hai zerfleischt", hätten meine Kollegen über mich geschrieben. Meine Geschichte wäre im Internet wie verückt geklickt worden. Wenn Haie nicht ganz anders wären, als Medien sie oft zeigen.
von wissen.de-Autorin Tina Bucek

Haie fallen nicht einfach Menschen an

Er schießt aus den Wellen, und ich sehe ihn erst gar nicht. ,,Hai voraaaausuus", brüllt Rob. ,,Los los, runter mit Euch". Der Skipper unseres kleinen Fischerbootes fiddelt an der Aufhängung eines eisernen Käfigs. Das Ding hängt im Wasser und ich in ihm. Niemand hat mir gesagt, dass Neoprenanzüge so unbequem sind. So muss sich eine Henne in einer Legebatterie fühlen. Ich glubsche durch meine Schwimmbrille, das Mundstück meines Sauerstoffschlauchs schmeckt wie Zahnspange. ,,Köder auswerfen", Robs Stimme kommt nur noch aus der Ferne. Ich sinke, die Fluten schlagen über mir zusammen. Ganz ruhig, sage ich mir. Seit 22 Jahren organisiert Rob ,,cagediving", übersetzt Käfigtauchen, mit Menschen und Haien. In 22 Jahren ist noch nie etwas passiert. Ein Schwarm Sardinen beäugt meine Gummihaut. Ganz ruhig. ,,Der weiße Hai", ,,Deep Blue See", alle diese Katastrophenfilme: Kreationen durchgeknallter Regisseure. Hollywood ist nicht das wahre Leben. Im wahren Leben gibt es Stahlstreben und Schutzanzüge. Im wahren Leben gehe ich auf Haiexpedition mit Rob Lawrence und nicht mit Steven Spielberg. Rob, Unternehmer aus Kapstadt, arbeitet mit den Super-Raubtieren, seit er acht Jahre alt ist. An Rob ist noch alles dran. ,,Haie fallen nicht einfach Menschen an", sagt Rob. Also ganz ruhig.

 

Allein unter Haien mit 60 000 Robben

Wie aus dem Nichts taucht er plötzlich auf: Geschmeidig gleitet er an meinem Gefängnis vorbei. Der weiße Hai. Schatten aus der Unterwelt. "Wer ist in diesem Zoo eigentlich wer?", schießt es mir durch den Kopf. Bedrohlich sieht das rund zwei Meter lange Tier eigentlich nicht aus. Vielleicht liegt es daran, dass er mir nicht die Zähne zeigt. Vielleicht an meiner beschränkten Sicht, mehr als anderthalb Meter können es kaum sein. Vielleicht liegt es auch daran, dass er in Sekundenschnelle wieder verschwunden ist. Mein erster Schreck hält sich jedenfalls in Grenzen. Als ich mich gerade entspannen will, erscheint er wieder in meinem Blickfeld: Der weiße Hai, diesmal macht er seinen Artgenossen auf der Leinwand alle Ehre. ,,Das ist ein anderer, ein ganz dicker Brocken", vernehme ich Rob aus dem Off. Und ob. Vier Meter aalglatter Schrecken: Mir bleibt fast das Herz stehen. Wer diese Gitterstäbe konstruiert hat, muss viele Zahnstocher benutzt haben. Denn viel stabiler können die Streben meines Käfigs nicht sein. Der Hai hält auf meine rechte Seite, genau da schwimmt die Attrappe, die aussieht wie eine Robbe. ,,Robben sind die Lieblingsspeise von Haien", hatte uns Rob bei der halbstündigen Anfahrt aufgeklärt. Na dann Prost Mahlzeit. Hier leben ja nur rund 60 000 Robben auf einem Inselchen von etwa einem Kilometer Durchmesser. Seal-Island: Ein Dive-In für jeden hungrigen Meeresräuber, Sebstbedienung rund um die Uhr. An kaum einem anderen Ort der Welt tummeln sich so viele weiße Haie wie hier. Hat eigentlich mal jemand erforscht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Hai einen Menschen mit einer Robbe verwechselt? ,,Klein", sagt Rob. ,,Haie sehen extrem gut. Und sie haben einen exzellenten Geruchssinn. Die Chance ist nicht sehr hoch." Nicht sehr hoch: Wie zur Bestätigung verschwindet der Hai hinter dem Boot. Ich ziehe an dem Sauerstoffschlauch. Auftauchen, bitte! Von oben kann man sicher auch toll sehen.

 

Haie gehören zu den bedrohten Tierarten

Was für mich ein Herzinfarkt-Erlebnis ist, ist für Rob Lawrence Alltag. Seit seiner Kindheit fährt er in Simonstown auf Haitouren. Der 45-Jährige lebt von den Raubtieren, denn Haitourismus ist nicht nur in Südafrika der Renner. Auch vor den Küsten Australiens und Kaliforniens tummeln sich immer öfter Besucher, die von den gefährlichen Meeresbewohnern fasziniert sind; und Firmen, die mit dieser Anziehung Geld machen. ,,Natürlich beschwören Haie Urängste, natürlich lösen sie Faszination aus", gibt auch Rob zu. ,,Die Begegnung mit einem Hai ist wie Bungee-Jumping. Da ist dieser gewisse Kitzel." Das Wichtigste aber seien für ihn die Tiere. ,,Haie sind weltweit bedroht. Ihre Zahl reduziert sich von Jahr zu Jahr." Was vermeintlich ansteigt, ist die Anzahl der Haiunfälle: So nehmen es viele Unbeteiligte wahr. ,,Das stimmt aber nicht”, sagt der renommierte Haiforscher und Meeresbiologe Erich Ritter. Jährlich passieren weltweit 60 bis 70 Unfälle mit Haien, davon enden fünf bis zehn tödlich. ,,Von insgesamt fast 400 Haiarten greift allenfalls ein Dutzend Menschen an. Und das äußerst selten”, betont Ritter. Es seien die Medien, die ein falsches Bild zeichnen. Worüber kaum berichtet wird: Haie gehören zu den bedrohten Tierarten. ,,Je nach Statistik töten wir Menschen zwischen 70 und 150 Millionen Haie im Jahr”, sagt Erich Ritter. Der Grund: Hai gilt besonders im asiatischen Raum als Spezialität. 100 Haiarten seien bereits gefährdet, mindestens zehn davon vom Aussterben bedroht. ,,Das ist eine Katastrophe für das Ökosystem Meer. Wir zerstören diesen Lebensraum durch Haiüberfischung langtristig”, warnt Ritter.

 

Haitourismus: Fluch und Segen

Schützt oder schadet es den Tieren, wenn Neugierige in Scharen in ihre natürliche Umgebung drängen? Einige Tausend Touristen klettern jedes Jahr vor der Küste in einen dieser klapprigen Käfige der wenigen Anbieter, vor Kapstadt sind es neben Lawrence' Firma African Shark Eco Charters nur zwei Unternehmen, im zwei Stunden von Kapstadt entfernten Gansbaai neun. In der Kritik steht besonders das Anlocken der Haie mit Blut oder blutigen Ködern. Das führe zur Konditionierung und mache sie weniger scheu vor Menschen, sagen Experten. Rob weiß um die Gefahr, darum benutzt er als Köder tote Thunfischköpfe und eine Plastikattrappe. Er hält sich in seiner Beurteilung zurück. ,,Ich spüre eine tiefe Liebe zu diesen Kreaturen", sagt der Südafrikaner. ,,Ich würde nichts tun, was ihnen schadet." Mit aggressiven Ködern arbeiten. Sie provozieren. ,,Haie kann man sowieso nicht kontrollieren. Sie zeigen sich nur, wenn sie es wollen." Doch natürlich lebt Rob auch von den Haien. In der Hochsaison zwischen März und Oktober fährt er täglich eine Tour zur Robbeninsel, am Wochenende auch zwei. Bis zu 18 Kunden nimmt er auf seinem Boot mit, jeder von ihnen zahlt ungefähr 100 Euro für den Trip.

Erich Ritter hält den kommerziellen Hype um die Meeresräuber für Fluch und Segen gleichermaßen. ,,Der Fluch ist, dass es mehr und mehr Anbieter gibt, die Haie lediglich vorführen. Der Kommerz steht im Vordergrund. In den meisten Fällen qualifiziert diese Anbieter nichts, Unfälle sind vorprogrammiert." Ritter, der selbst seit seiner Kindheit mit Haien arbeitet und mehrfach von Ihnen verletzt wurde, sieht aber auch Vorteile: ,,Der Segen ist, dass mehr Menschen sich mit Haien auseinandersetzen. Natürlich gibt es auch die Anbieter, die Informationen weitergeben, was Haie wirklich sind, welche Aufgaben sie in den Meeren haben."

 

Haie lösen Angstzination aus

Inzwischen habe ich mich aus dem Anzug gepellt, eine Brise aus Südwesten kühlt den Schweiß. Mit mir sind noch sieben weitere Gäste an Bord: Denen Ally, Meeresbiologin und Crewmitglied, eine Lehrstunde in Sachen Haibiologie erteilt: ,,Haie werden bis zu 20 Jahre alt und bis zu zwölf Metern lang. Mit ihren Kiefern erzeugen die Raubtiere eine Gewichtskraft von bis zu 1,8 Tonnen, mehr als jedes andere Lebewesen. Niemand weiß, wie sie sich vermehren, denn sie lassen sich schwer beobachten. Es gibt nur Vermutungen." Bis zur Geschlechtsreife brauche es je nach Haiart ungefähr zwölf Jahre. ,,Darum sind die Haie so bedroht: Wenn die Jungtiere abgefischt werden, kann kein Nachwuchs gezeugt werden." Inzwischen steht die Sonne hoch über dem Ozean. David, ein Brite, schält sich neben mir aus seiner Gummihaut. Er war als letzter im Käfig und sieht ein wenig mitgenommen aus. Der ,,dicke Brocken” war drei Mal um ihn herumgestrichen. Warum er mit auf die Tour gegangen ist? ,,Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt”, sagt David. Was hat Rob zu den Haien gezogen? ,,Als ich das erste Mal einem Hai in die Augen geblickt habe, da wir ich Fischen mit meinem Großvater. Seitdem konnte ich nicht mehr loslassen.”

Warum lieben wir Haigeschichten, Herr Ritter?: ,,Angstzination”, nennt es der Fachmann. ,,Haie vereinen mehr Urängste als jedes andere Tier. Sie sind mit einer Eleganz und Kraft versehen, die durch andere marine Organismen kaum überboten werden kann. Es ist diese körperliche Überlegenheit, die uns Menschen so fasziniert: Das Wissen, dass wir in der Natur oft ihren Bewohnern unterlegen sind, gleichzeitig aber verstehen, dass diese Tiere uns in ihrer Welt akzeptieren.” 

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