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Chinas Bewertungssystem: "Harmonie" durch lückenlose Überwachung

Wer seine Rechnungen zu spät bezahlt, darf nicht mehr Zug fahren. Wer bei Rot über die Ampel geht, bekommt Minuspunkte. Künftig will China seine Bürger mit einem gigantischen Bewertungssystem überwachen und erziehen. Menschen mit hoher Punktzahl werden belohnt, ungewolltes Verhalten kann zum Jobverlust führen. Welche Maßnahmen laufen bereits? Und finden sich Prinzipen des Systems auch bei uns?
YBR, 25.04.2018

China ist heute das Land mit der umfassendsten Überwachung durch "intelligente" Überwachungskameras. Einige dieser Geräte können Gesichter identifizieren, andere Geschlecht, Größe und Herkunft der gefilmten Person einschätzen.

pixabay.com, PhotoMIX-Company

Bis 2020 will China ein soziales Bewertungssystem für seine 1,4 Milliarden Bürger einführen – verpflichtend. Über ein Punktekonto ließe sich dann sowohl das Sozialverhalten als auch die Kreditwürdigkeit jedes Chinesen direkt erkennen. Dadurch sollen der Zusammenhalt und das Vertrauen in der Bevölkerung wachsen. In einigen Regionen des Landes testet die Regierung schon wie "brav" ihre Bürger sind.

Rongcheng – die artige Vorzeigestadt

Eine dieser Teststädte ist Rongcheng. In der Küstenstadt leben eine Millionen Einwohner bereits seit 2014 innerhalb des Sozialkreditsystems. Jeder Bewohner bekam beim Start ein Konto mit 1.000 Punkten und befand sich damit in Klasse A. Der Staat kann dann Punkte gutschreiben oder abziehen, der Bürger auf- oder absteigen. So gibt der Gang über eine rote Ampel fünf Punkte Abzug, gute Leistung bei der Arbeit oder eine korrekte Müllentsorgung bringen dagegen Pluspunkte.

Ab 1.300 Punkten ist die AAA-Kategorie erreicht, unter 600 Punkten sackt man in Kategorie D ab. Die Vorzeigebürger genießen viele gesellschaftliche und finanzielle Vorzüge: bei Beförderungen, beim Abschluss von Krediten und Versicherungen oder bei der Zulassung in Schulen. Ab Kategorie B kann schon die Beförderung ausbleiben, C-Bürger werden regelmäßig kontrolliert und Kategorie D bekommt keine Kredite und bestimmte Leistungen mehr. Der Druck ist enorm, auch weil die Top-Bürger mit Fotos öffentlich auf Tafeln angepriesen werden.

Ein Teil des Bonitätssystems ist aber bereits jetzt schon voll im Gange. Die Regierung bestraft ihre Bürger, wenn diese einen Kredit nicht zurückzahlen können oder ohne Ticket Zug fahren. Schuldner und Schwarzfahrer können dann keine Tickets mehr für den Schnellzug kaufen und auch nicht mehr mit dem Flugzeug reisen. Allein 2016 wurde diese Strafe 6,7 Millionen Mal verhängt.

Ein wichtiges Vorhaben auf dem Weg zur totalen sozialen Kontrolle ist die Vernetzung staatlicher und privater Datenbanken. Schon heute besteht in vielen Bereichen eine Symbiose von Staat und Privatwirtschaft – Internetgiganten wie Alibaba und Tencent fallen hier schon länger negativ auf.

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Big Data trifft Big Brother

Durch die Vernetzung staatlicher und privater Datenbanken soll bis 2020 eine gigantische Sammlung aus persönlichen Daten der Chinesen entstehen. Doch aus welchen Quellen stammen all diese Informationen? Zunächst könnte das System auf Strafregister, Arbeitszeugnisse und Krankenakten zugreifen. Besonders das Online-Verhalten ist eine wahre Goldgrube für die Datensammler: Onlineshopping, Suchanfragen und Beiträge aus sozialen Netzwerken verraten viel über die Person. So sammeln Alibaba und Tencent, die großen Online-Händler Chinas, schon lange Daten zum Einkaufsverhalten und stellen diese auch Behörden und Banken zur Verfügung.

Durch Videoüberwachung und Gesichtserkennung könnte sich die lückenlose Überwachung aber auch in die reale Welt ausbreiten. China plant die großflächige Installation von Videokameras und arbeitet bereits an einer zentralen Datenbank zur Gesichtserkennung. Wer an der Kasse oder im Straßenverkehr drängelt, könnte dann bald auf der schwarzen Liste landen.

Mit ihrem Sozialkredit-System befindet sich China auf dem besten Weg zum perfekten Überwachungsstaat. Laut einem Bericht der Wochenzeitung "Die ZEIT" könne das System sogar die Parteiloyalität der Bürger überwachen. Wer in der Pilotstadt Rongcheng die Website der parteinahen Volkszeitung aufrufe, bekäme dafür auch Pluspunkte. Systemkritiker haben damit schlechte Karten.

Nicht nur in China

Es ist leicht, mit einem anklagenden Finger auf China zu zeigen. Viele Prinzipien hinter dem Sozialkredit-System finden sich aber auch in der westlichen Welt. So nutzen auch Krankenkassen ein Belohnungssystem, um gewünschtes Verhalten zu fördern. Sind Sie Nichtraucher? 50 Euro. Treiben Sie regelmäßig Sport? 50 Euro. Einige Krankenkassen bezuschussen Fitnessbänder, die Gesundheitsdaten über ihre Träger sammeln. Die Techniker Krankenkasse nutzt diese Daten auch für ihr Bonus-Programm.

Westliche Länder sind zwar noch weit vom Kontrollstaat China entfernt, der Trend geht jedoch auch hier in Richtung Überwachung. So hat der Bundesnachrichtendienst in den letzten Jahren viele neue Befugnisse erhalten und darf nun im Ausland auch ohne Verdacht Telefone und das Internet anzapfen. Datenschützer schlagen zudem Alarm wegen der starken Zunahme von digitalen Fahndungstechniken wie "stillen SMS", durch die Sicherheitsbehörden den Aufenthaltsort und das Bewegungsprofil von Verdächtigen bestimmen können.

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