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Die Diktatur des Orgasmus

Sex, Perversion oder gar Liebe? Anne-Sophie Brasme (22) beschreibt eine Obsession für das Hässliche, Véronique Olmi (44) den Versuch, zerbrochene Seelen mit Sex zu kitten. In bücher sprechen die Autorinnen über die Lust, die Literatur und die Männer.

Interview: Dorothea Hahn

Eine Frau, ein Mann, der Sex – das ist die Konstellation in Ihren Romanen. In beiden erfahren wir wenig über den Mann. Warum?

Véronique Olmi: Am Anfang wollte ich genauso viel von dem Mann sprechen. Aber ich schaffte es nicht. Ich weiß, was eine Frau bei einem Sexualakt empfindet. Aber der Mann? Ich hatte keine Lust, das zu erfinden. Zu pfuschen.

 

Anne-Sophie Brasme: Bei mir war es ähnlich. Ich fand die Frau und den Mann interessant. Aber es gelang mir nicht, in die Haut eines Mannes zu schlüpfen. Da konnte ich mir nur vorstellen, was in seinem Kopf passiert. Weil ich eine Frau bin, hat in meinem Buch die Frau – Marica – die Oberhand gewonnen.

 

Schreibende Männer scheinen dieses Problem nicht zu kennen …

 

Véronique Olmi: Das wundert mich jedes Mal. Und das stört mich beim Lesen. Das Umgekehrte gibt es übrigens auch: Frauen, die als männliche Personen sprechen. Ich finde es interessant, den männlichen Part zu suchen. Aber wenn ich merke, dass es nicht weitergeht, höre ich auf.

 

Anne-Sophie Brasme: Da gibt es unweigerlich einen Moment, wo es blockiert.

 

 

Aber Männer interessieren Sie?

 

Véronique Olmi: Ja. Die Frau in meinem Roman denkt immer an den Mann. Sie fragt sich, wen und was seine Hand berührt hat. Vor ihr. Woher sein Geruch kommt. Die Farbe seiner Augen nimmt drei Seiten ein. Das steht alles in Beziehung mit dem Mann. Das ist nicht narzisstisch. Sie versucht, dieses männliche Rätsel zu verstehen. Weil sie es liebt. Weil sie davon angezogen ist.

 

Anne-Sophie Brasme: Bei mir ist das anders. Ich habe beim Schreiben gemerkt, dass es ein Buch über die Weiblichkeit ist. Über die vom Mann verletzte Weiblichkeit. Ich habe mich nicht für den Mann interessiert. Dafür, was er empfinden könnte. Sondern für die Frau. Sein Blick auf ihren Körper. Die Art wie sie von einem Mann, der pervers ist, gekränkt und verletzt werden kann. Ich glaube, in diesem Punkt haben wir die Dinge unterschiedlich behandelt.

 

 

Schreibt eine Frau anders über Sex und Sinnlichkeit als ein Mann?

 

Anne-Sophie Brasme: Wir empfinden nicht unbedingt dieselben Dinge. Die Frau kann leichter verletzt werden. Diesen schwarzen Punkt der Sexualität will ich zeigen.

 

Véronique Olmi: Ich bin nicht einverstanden. Ich glaube, die männlichen Verletzungen sind versteckter. Die Männer sprechen nicht so leicht darüber wie wir. Aber die männliche Sexualität ist genauso kompliziert, wie die weibliche. Gerade deswegen könnte ich nicht darüber schreiben.

 

Anne-Sophie Brasme: Aber in der Beziehung zum anderen – und sei es wegen der körperlichen Unterschiede, wegen der Kraft des Mannes – geschieht es häufiger, dass eine Frau von einem Mann verletzt wird.

 

 

In Ihrem Buch begehrt ein Mann ein Mädchen, vor dem er sich ekelt.

 

Anne-Sophie Brasme: Eine Metapher für Sexualität.

 

Véronique Olmi: Sexualität kann zerstörerisch sein, weil sie sehr schön sein kann. Sie hat eine Intensität in beide Richtungen. Leute, die zu großer Freude fähig sind, können auch Schreckliches anrichten und erleben. Sexualität ist die Basis von allem.

 

Anne-Sophie Brasme: Das ist der Körper. Und wir sind ein Körper. Wir sind darin geboren.

 

Véronique Olmi: Genau.

 

Anne-Sophie Brasme: Das ist unauflöslich. Man lebt in diesem Körper, in diesem Fleisch.

 

Véronique Olmi: Die Beschreibung einer zerstörten Sexualität kann auch eine Hymne auf die Sexualität sein. Das ist der Schatten, der zu dem außergewöhnlichen Licht gehört, das wir suchen. Und das existiert.

 

Anne-Sophie Brasme: Ich wusste, dass der Fotograf in meinem Buch komplett pervers ist. Die Faszination durch das Ungewöhnliche, das hat jeder von uns in sich. Hier habe ich eine Figur, die das Hässliche bis zum Extrem treibt.

 

Véronique Olmi: Ich finde es kohärent, dass deine Generation etwas anderes schreibt. Vielleicht ist es die Faszination des Hässlichen. Denn es gibt heute diese schreckliche Diktatur des Schönen. Zu meiner Zeit hatten wir eine feministische Presse. Heute gibt es eine Diktatur des Mageren, der perfekten Zähne, des Orgasmus. Das muss man zerschlagen.

 

Frau Brasme, warum ist der Sex in Ihrem Buch so düster?

 

Anne-Sophie Brasme: Ich habe nicht auf die Liebe in meinem Leben verzichtet. Und ich bin auch nicht so pessimistisch, was die Möglichkeit des Zusammenlebens betrifft, wie meine Personen. Aber es stimmt, dass ich die Sexualität für etwas Kompliziertes halte. Ich bin selbst verletzt. Darüber möchte ich lieber nicht reden. Und es bedeutet nicht, dass ich endgültig ins Malheur gestürzt wäre.

 

Ein autobiografischer Roman also?

 

Anne-Sophie Brasme:

Ich habe nie einen Fotografen getroffen. Und ich halte mich auch nicht für besonders hässlich. Am Anfang habe ich meine Geschichte ausgedacht. Sie handelte von einem Fotografen und von einem jungen Mädchen, das hässlich ist. Dann habe ich aber festgestellt, dass es dabei durchaus Gelebtes gab. Unbewusstes. Tiefe Dinge.

 

 

Frau Olmi, schreiben Sie über sich?

 

Véronique Olmi: Nie. Um meine Umgebung zu schützen, die nicht dafür verantwortlich ist, dass ich Schriftstellerin bin, und zu meinem eigenen Schutz. Aber ich will nicht scheinheilig sein. Die Begegnung von zwei Menschen kann Leben retten. Ich bin romantisch. Ich liebe die Liebe.

 

 

Wie reagieren Menschen auf Romane, in denen es um Sexualität geht?

 

Véronique Olmi: Es gab plötzlich Schweigen um mich herum. Leute luden mich nicht mehr ein. Oder taten so, als würden sie mich nicht wiedererkennen.

 

Anne-Sophie Brasme: Was stört sie?

 

Véronique Olmi: Das sind Männer und Frauen aus dem künstlerischen Milieu, von denen ich eine gewisse Distanz zum schöpferischen Akt erwartet hätte. Auf ihren Neujahrskarten haben mir manche erklärt, woran es liegt: Mein Buch sei schamlos.

 

 

Wäre die Reaktion anders, wenn ein Mann das Buch geschrieben hätte?

 

Véronique Olmi: Davon bin ich überzeugt.

 

Anne-Sophie Brasme: Das ist unglaublich.

 

Véronique Olmi: Und Unsinn. Es geht um zwei Erwachsene, die niemandem weh tun. Sie lieben sich im gegenseitigen Einverständnis. Für mich hat das nichts mit Schamlosigkeit zu tun. Ich hatte eher befürchtet, ich könnte als kitschig kritisiert werden.

 

 

Gibt es auch die andere Reaktionen?

 

Véronique Olmi: Ja, perverse andere Reaktionen. Männer, die in Buchsalons oder bei Lesungen auf mich zukommen, um mich anzumachen. Das ist eigenartig. Sie haben den Roman gelesen und denken, ich wäre zu haben. Da ist keine Distanz.

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