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Die Girlies aus dem Meer

Sie heißen Thora oder Süßherzchen, tragen Pferdeschwanz und grüngraugoldene Leggins. Sie planschen heimlich in der Wanne und manchmal im Aquarium. Ein ganzer Schwarm von Büchern über Meerjungfrauen kommt uns entgegen. Platsch und Bahn frei für die neuen Nixen.

Sigrid Jürgens, bücher

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»Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie Kornblumen und so klar wie das reinste Glas ...« Wer hier lebt, tief unten im Schloss des Meerkönigs? Liebhaber von Hans Christian Andersen wissen es ganz genau: die kleine Meerjungfrau natürlich, beschützt von Mauern aus Korallen, ihre Haut so zart wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See und statt Beinen von der Natur mit einem schillernden Fischschwanz ausgestattet. Seit Andersens traurigschöner Liebesgeschichte von 1837 über die Liebe einer lieblich-schönen Seejungfrau zu einem Prinzen, für den sie zum Menschen wird und aus unerwiderter Liebe als Schaum auf dem Meer vergeht, hat sich im Reich der Nixen viel getan.

Anders gesagt: Selbst hier geht alles nicht mehr so märchenhaft erhaben zu wie noch zu Andersens Zeiten. Der Fortschritt hat auch vor dem Reich der Nixen nicht Halt gemacht, wie die neuen Kinderbücher zeigen, in denen uns ein ganzer Schwarm von Nixen entgegenschwimmt. Oft müssen sie unerkannt unter den Menschen eine Doppelexistenz führen, wie das Meermädchen Mare de Waver aus Sabine Wismans Erzählung »Ich bin ein Meermädchen (aber das ist ein Geheimnis)«, oder sie sind nur noch halbe Meerjungfrauen, wie das Meermädchen Thora von Gillian Johnson, das deshalb auch dazu verflucht ist, zwischen den Welten zu leben. Oder aber sie schwimmen gar nicht mehr weit draußen im Meer herum, sondern müssen, eingesperrt in ein Aquarium eines Chinarestaurants, ihr Dasein fristen. So wie Süßherzchen und ihre turbulente Wassermann-Sippe. Doch zu Klagen gibt es keinen Anlass: Denn so selbstbewusst und kess wie eine Pipi Langstrumpf mit Fischschwanz sind die neuen Meermädchen, und die aktuellen Nixenromane bieten Kindern tiefseereife Abenteuer voller Charme und Witz. Ganz klar: Die kleinen Nixen genießen ihr fischiges Dasein. Was die schwimmenden Girlies an Menschen besonders schade finden? »Dass die Beine ohne Schuppen sind, an den Füßen keine Flossen sitzen und die Köpfe keine Fontänen spritzen, dass sie ganz abscheulich schwimmen und ihre Stimmen rostig klingen, dass die Augen trübe sind im Wind und oft sogar vom Staub ganz blind.«

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Mit ihren Vorfahren, die sich vielgestaltig wie das Wasser und schillernd-schön, aber zugleich auch dunkel-dämonisch in den alten Märchen und Sagen tummeln, haben diese Nixen nichts gemein. Tauchten diese Nixen oder Nymphen, Meerjungfrauen, Melusinen und Sirenen doch noch geheimnisvoll, halb göttliches, halb menschliches Wesen, aus den Tiefen des Meeres auf. Und nicht selten nur zu dem einen Zweck: um einen Mann in ihr Reich zu locken, ihn zu becircen und ins Unglück zu stürzen. Joseph von Eichendorffs Gedicht über die »Hexe Lorelei« oder Heinrich Heines »Die Lorelei« sind bekannte Beispiele dafür. Aber auch in den Grimm’schen Märchen findet sich zum Beispiel »Die Nixe im Teich«, die dem Müller zwar aus seiner Not hilft und ihm Reichtum beschert, aber dafür sein Kind von ihm fordert und es, zum Jüngling gereift, hinab in ihr dunkles Reich zieht. Allein die Liebe seiner Frau kann ihn aus dem Bann der Nixe befreien.

Im Land der Nixen geht es heute anders zu: Wenn auch die Liebe zu einem Mann sogar heute noch schwere Konsequenzen mit sich zu bringen scheint. So wie bei Halla, Thoras wunderschöner Meerjungfrauen-Mutter, deren Haare so herrlich nach Kürbiskuchen duften. Trotz aller Warnungen hat sie, wie schon ihre berühmte Vorgängerin »Die kleine Meerjungfrau«, ihren Gefühlen nicht widerstehen können. Allerdings wird sie von ihrem Angebeteten nicht zurückgestoßen, wie einst die kleine Meerjungfrau, sondern – mit sichtbaren Konsequenzen erhört … Kaum neun Monate nach der Hochzeit nämlich erblickt die kleine Thora das Licht der Welt beziehungsweise des Meeres. Der Ehemann? Spurlos verschwunden. Natürlich ist Halla verzweifelt, zumal das halbmenschliche Baby weder Haifischfleisch noch Seegurkensaft zu mögen scheint und ununterbrochen schreit. Ganz klar: Wenn Meerjungfrauen weinen könnten, wäre das Meer von Hallas Tränen übergelaufen. Doch die Tragik verpufft schnell, als ein sehr »großes, dünnes Gespenst« in das Leben der frisch gebackenen Nixenmama tritt: der betagte Mr. Walters, der fortan die Geschicke der Nixe und ihres Töchterchens Thora lenkt. Und auch dafür sorgt, dass die allein erziehende Nixenmama mit Schwimmwettkämpfen den Unterhalt für die kleine Familie verdient.

Auch Hilke Rosenboom versteht es übrigens, die märchenhafte Nixenthematik mit menschlichen Problemen zu verquicken: Denn ihre Heldin Melissa, ein Menschenmädchen, dem die Meerjungfrau Süßherzchen mit ihrer Sippe förmlich aus dem Aquarium in die Handtasche springt, muss gerade die Trennung der Eltern verdauen. Und nicht nur die, sondern auch die neue Freundin des Vaters samt ihrer beiden kleinen Töchter, die sie natürlich für grässliche Schnepfen hält ... Obwohl im Reich des Meeres und der Märchen angesiedelt, sind die neuen Nixengeschichten zugleich voller Leben, Freiheitsliebe und mit vielen aktuellen Bezügen. Und sie erzählen allesamt von Mädchen, die sich aus Zwängen befreien und vielleicht Schuppen am Schwanz, aber nicht auf den Augen haben. Es sind eben (Meer-)Mädchen, die sich nichts gefallen lassen. Schon gar nicht das eine – irgendwann wie Andersens traurig verlassene Meerjungfrau wie Schaum auf dem Meer zu treiben …

Erwähnte Bücher:

  • Hans Christian Andersen: Die kleine Seejungfrau, Esslinger, 48 Seiten, 15 Euro, 8 bis 99 Jahre
  • Gillian Johnson: Thora Meermädchen, rororo, 224 Seiten, 9,90 Euro, ab 8 Jahren
  • Hilke Rosenboom: Melisssa und die Meerjungfrau, Carlsen, ca. 128 Seiten, 7,90 Euro, ab 8 Jahren
  • Sabine Wisman: Ich bin ein Meermädchen (aber das ist ein Geheimnis), Urachhaus, 107 Seiten, 11,90 Euro, ab 7 Jahren
  • Daniela Drescher: Im Land der Nixen, Urachhaus, 24 Seiten, 9,90 Euro, ab 3 Jahren

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