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Die Schweiz und Hesse: eine wechselseitige Liebe

Im Tessiner Dorf Montagnola verbrachte Hermann Hesse über die Hälfte seines Lebens. Wie sehr die Schweiz Hesse beeindruckte und beeinflusste, zeigt sich im Werk des Dichters, Malers und zuletzt auch Gärtners.
von wissen.de- Autorin Susanne Böllert

Dabei war es keineswegs so, dass die Tessiner die Gefühle gleich erwidert hätten, die Hermann Hesse für ihre Region vom ersten Moment an empfand. Ziemlich respektlos bezeichneten sie den Zuzügling als „den komischen Deutschen mit Strohhut“ oder gar als „paciügon“, was im Tessiner Dialekt so viel wie „Wirrkopf“ bedeutet. In der Schweiz war Hesse, der damals sehr zurückgezogen in vier kleinen, unbeheizten Zimmern der Casa Camuzzi in Montagnola lebte, beinah völlig unbekannt. Dass mit dem scheuen Mann ein künftiger Nobelpreisträger in die italienische Schweiz gezogen war, ahnte niemand.

 

In der Schweiz findet Hesse sein Paradies

Allerdings trafen die Tessiner mit ihrer Bezeichnung „Wirrkopf“ zunächst voll ins Schwarze. Denn als Hermann Hesse 1919 an den Luganer See zog, befand er sich in einer tiefen psychischen Krise, in die ihn sowohl der Erste Weltkrieg als auch erdrückende familiäre Probleme gestürzt hatten: Der Tod des Vaters, die kriselnde Ehe, der schwer erkrankte Sohn – all dies hatte zu einer starken seelischen Verwirrung des 42-Jährigen geführt. Hesse floh schließlich aus der bürgerlichen Enge seines bisherigen Zuhauses in Bern und zog in den blühenden Süden der Schweiz. Er fand hier nicht weniger als ein Paradies auf Erden.

„Hier scheint die Sonne inniger und die Berge sind röter, hier wächst Kastanie und Wein, Mandel und Feigen, die Menschen sind gut, gesittet und freundlich.“

Von den Spitznamen, die ihm seine Tessiner Nachbarn verliehen hatten, mag der Schriftsteller vielleicht nicht gewusst haben, doch dass die Schweiz Hesse zu neuem Lebensmut und zu einer sehr produktiven Schaffensphase verhalf, war ihm gewiss. In Montagnola habe die „vollste, üppigste, fleißigste und glühendste Zeit“ seines Lebens begonnen, wie er später erklärte. Inspiriert von der farbenprächtigen, sinnlichen Landschaft des Tessins schreibt Hesse im Rausch des „leidenschaftlichen und raschlebigen Sommer[s]“ von 1920 in der Casa Camuzzi die Novelle „Klingsors letzter Sommer“ , in der er sein Alter Ego, einen Maler, „nach Mitternacht auf den schmalen Balkon seines Arbeitszimmers“ treten und Folgendes beobachten lässt:

„Unter ihm sank tief und schwindelnd der alte Terrassengarten hinab, ein tief durchschattetes Gewühl dichter Baumwipfel, Palmen, Zedern, Kastanien, Judasbaum, Blutbuche, Eukalyptus, durchklettert von Schlingpflanzen, Lianen, Glyzinien. Über der Baumschwärze schimmerten blaßspiegelnd die großen blechernen Blätter der Sommermagnolien, riesige schneeweiße Blüten dazwischen halbgeschlossen, groß wie Menschenköpfe, bleich wie Mond und Elfenbein, von denen durchdringend und beschwingt ein inniger Zitronenduft herüberkam.

Und so wie der Maler seiner Novelle hatte auch Hesse selbst eine lange Asienreise angetreten. Indes stellt Klingsor stellvertretend fest:

Aber alles, was ich dort fand, das finde ich heute auch hier: Urwald, Hitze, schöne fremde Menschen ohne Nerven, Sonne, Heiligtümer.“

 

In der Schweiz wird Hesse zum Aquarellmaler

Luganersee – Schweiz
Fotolia.com/seawhisper
Doch nicht nur die Leserschaft Hermann Hesses sollte von dessen Umzug ins Ticino profitieren. Auch für die Kunstliebhaber unter seinen Jüngern waren die vielen Jahre, die Hesse in der Schweiz verbrachte, ein Glück. Denn nachdem er bereits 1916 im Rahmen einer Psychotherapie zu malen begonnen und sich in Tempera, Kreide, Pastell und Öl versucht hatte, fand Hesse in der Schweiz seine Bestimmung als Maler im Aquarellieren. Die Motive seiner farbenfrohen Aquarelle waren Grotti (kleine Schankstuben, oft halb im Berg versteckt), leuchtende Rebberge, Kapellen und Dörfer, die „der ewige Wanderer“ bei seinen ausgedehnten Spaziergängen fand.

 

„Das Malen ist wunderschön, es macht einen froher und duldsamer. Man hat nachher nicht wie beim Schreiben schwarze Finger, sondern rote und blaue.“

 

Der Schweiz bleibt Hesse bis in den Tod treu

Im Jahr 1924 wurde Hesse zum zweiten Mal - und diesmal definitiv - zum Eidgenossen. Der Schweiz ist Hesse bis zu seinem Tod treu bleiben, denn immerhin habe ihn die Tessiner Landschaft „wie eine vorbestimmte Heimat angezogen und empfangen“. Als Schweizer schrieb er „Narziss und Goldmund“, den „Steppenwolf“ und das „Glasperlenspiel“, das ihm 1946 den Nobelpreis und seinem Briefträger einen Haufen Arbeit einbrachte. Denn während der gefeierte Autor das Schild „Bitte keine Besuche“ an sein neues Haus, die Casa Rossa, montierte, musste das Postamt in Montagnola eigens einen Schubkarren anschaffen, um die Leserbriefe zu befördern, die aus aller Welt an das Tessiner Versteck des Dichters adressiert wurden. Und Hesse, der selbst die Verleihung des Nobelpreises scheute, beantwortete – sehr zum Verdruss seines Postboten - alle Schreiben selbst: Über 35.000 Briefe sollen von ihm erhalten sein.

Dass der Schriftsteller im Alter noch Zeit für ein anderes wichtiges Hobby fand, ist angesichts einer solch überbordenden Korrespondenz erstaunlich. Doch während sich Hesse in der Schweiz  als Dichter und Maler lange nur indirekt mit der geliebten Landschaft des Tessins auseinandergesetzt hatte, legte er später im Garten der Casa Rossa selbst Hand an sie an. Der Feingeist baute Wein, Gemüse und Blumen an und genoss den engen Kontakt zur Natur, die meditative Kraft der Gartenarbeit, die ihn auch für seine schriftstellerische Arbeit beflügelte. Besonders den Bäumen hatte sich Hesse Zeit seines Lebens verbunden gefühlt. Schon 1927 schrieb er in „Klage um einen alten Baum“:

„Das Laub jedes Baumes sowie seine Blüte und Frucht ist mir in jedem Zustande des Werdens und Hinsterbens wohlbekannt, jeder ist mein Freund, von jedem weiß ich Geheimnisse, die nur ich und sonst niemand weiß. Einen dieser Bäume zu verlieren, heißt für mich, einen Freund zu verlieren.“

Doch dass sich Hermann Hesses Liebe zum Tessin nicht nur aus der Schönheit der Landschaft speiste, sondern auch den Landsleuten verdankte, zeigt folgendes Zitat:

„Ich liebe nicht nur die Landschaft und das Klima, sondern auch die Tessiner.“

Und die sind auch heute noch stolz auf ihren „paciügon“, der auf dem Gemeindefriedhof von Montagonola seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Längst sind die Schweiz und Hesse in gegenseitiger Liebe miteinander verbunden.

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