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Es tropft

von Claudia Lampert

Es tropft. Stetig tropft es aus der Dunkelheit auf meinen Rücken. Ich spüre das Gewicht des Wassers in der Decke über mir. Ich stelle mir vor, wie es durch den Boden sickert, jeden Hohlraum füllt und mir beständig näherkommt. Wie es schließlich eine Ritze findet und sich in einem dicken Tropfen sammelt. Vor meinem inneren Auge kann ich sehen, wie der Tropfen anschwillt, sich von der Decke löst und fällt. Ich habe Angst vor diesem Moment.

Ich fürchte das Wasser. Natürlich fürchte ich es. Jeder von uns fürchtet es. Es wäre unverantwortlich dumm, den einzigen Feind, dem wir nichts entgegenzusetzen haben, nicht zu fürchten.

Das Wasser zerstört uns. Es dringt in unsere Ritzen, friert darin zu Eis und sprengt uns auseinander. In geduldiger Kleinarbeit löst es winzige Steinchen aus unserem felsenfesten Verbund, so lange, bis wir auseinanderbrechen. Es reißt uns mit, schleift uns glatt, höhlt uns aus und verändert unsere Form. Es schlägt uns aneinander, zerreibt uns zu Sand und nimmt uns unsere Identität.

Ich verabscheue es und setze mich ihm zur Wehr, so gut ich es vermag. Es wird mich nicht kleinkriegen. Ich bin unnachgiebig. Ich bin stark. Ich bin hart. Das Wasser wird mich nicht zermalmen. Das hat es eingesehen. Jetzt setzt es mir mit Geduld zu. Seit Menschengedenken und länger. Seit einer Ewigkeit. So lange, wie kein Mensch es je ermessen kann. Die Zeiträume unserer Wahrnehmung sind für Menschen nicht nachvollziehbar. Die Zeitspanne eines Menschenlebens ist unbedeutend für uns. Für Wasser und Stein – das zumindest verbindet uns. Ansonsten haben wir nichts gemein. Wir sind Gegner, seit Anbeginn der Zeiten.

Ich fürchte das Wasser nicht nur. Ich habe gelernt, es zu hassen. Mit aller Härte, zu der ein Stein in der Lage ist. Es quält mich auf grausamste Weise. Es tropft. Jeder Tropfen ist ein Geschoss, das mich im Innersten verletzt, obwohl es nur meine Oberfläche trifft.

Es tropft mal schneller und mal langsamer, mal mehr und mal weniger, aber immer gleichmäßig. Jeder Tropfen ist exakt gleich groß wie der davor.

Mit einem hellen Ton schlagen sie auf und zerstören die Stille. Das leise Geräusch ist laut in meiner Höhle, denn es ist das einzige. Es hallt zwischen den Wänden wider. Aufmerksam lausche ich dem Rhythmus der Tropfen. Sie fallen quälend langsam. Die Pausen zwischen ihnen sind so lang, dass ich jedes Mal denke, es hat aufgehört. Und dann trifft mich der nächste Tropfen.

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