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Europäische Verfassung: Das Jahrhundert-Projekt

Seit Jahrzehnten ist sie im Gespräch: eine Verfassung für Europa, die dem europäischen Einigungsprozess eine verständliche und verlässliche Rechtsgrundlage bietet. Frühe Anläufe scheiterten, doch schon in wenigen Jahren könnte die Europäische Union tatsächlich in guter Verfassung sein.

Marc Fritzler

Kleine Schritte statt großem Wurf

Noch während des Zweiten Weltkriegs entwarfen Widerstandsgruppen kühne Pläne für eine Nachkriegsordnung in Europa. Auch der Begriff „Verfassung“ als Grundlage für einen wie auch immer gearteten Bund der europäischen Staaten stand bereits in manchen Papieren, etwa in einer Denkschrift der deutschen Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ von 1942 mit dem Titel „Das europäische Verfassungsproblem“. Darin hatten die Kreisauer sich Gedanken gemacht über einen europäischen Bund, an den die Staaten Souveränitätsrechte abtreten sollten. Eine europäische Regierung und ein übernationales Parlament sah die Denkschrift als Machzentren vor.

Doch statt des großen Wurfs nach einem auf einer Verfassung beruhenden europäischen Staatenbundes, wie ihn vor allem die Europäischen Föderalisten in den ersten Nachkriegsjahren forderten, stand am Beginn des europäischen Einigungsprozesses die Politik der kleinen Schritte - die dennoch für ihre Zeit kühn waren: Als der französische Außenminister Robert Schuman 1950 vorschlug, die einstigen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich sowie weitere Staaten sollten ihre Montanindustrie (Kohle, Stahl) einer gemeinsamen, überstaatlichen europäischen Kontrolle unterstellen, war dies eine Sensation. Die Geschichte der späteren Europäischen Union nahm damit ihren Lauf.

Doch für eine Verfassung, die den im Aufbau befindlichen Europäischen Gemeinschaften (EG) einen politischen Überbau hätte geben können, war die Zeit noch nicht gekommen. Statt dessen zogen es die Gründerstaaten der EG vor, den Einigungsprozess zunächst nur in ausgewählten Wirtschaftsbereichen zu beginnen - und das Vertragswerk zunehmend zu komplizieren. Das noch weit verbreitete Misstrauen und der sich verfestigende Ost-West-Konflikt vereitelten, dass Pläne für eine „Europäische Politische Gemeinschaft“ (EPG) bereits in den 1950er Jahren verwirklicht wurden.

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