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Interview mit Henning Mankell: “Wir leben in einer schrecklichen Welt“

wissen.de:
Ihre Bücher sind melancholisch und von einer abgrundtiefen Traurigkeit. Wie Sie wissen, wird daraus oft der Seelenzustand des Autors abgeleitet. Wer sind Sie wirklich, Herr Mankell?

Henning Mankell:
Ich halte mich nicht für melancholisch und glaube auch nicht, dass ich Wallander oder einer anderen meiner Figuren ähnele. Auch meine Romane oder Theaterstücke betrachte ich nicht als traurig oder melancholisch. Man kann mich wohl am ehesten als Realisten bezeichnen, aber das ist etwas ganz anderes. (Meine Frau meint übrigens, dass ich der lustigste Mensch sei, dem sie je begegnet ist und ich bin überzeugt davon, dass Humor ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit ist.)

wissen.de:
Wie gelingt es Ihnen als Künstler alltäglich Ihr Gleichgewicht aus Fantasie und Wirklichkeit zurückzuerobern, das man als Kind besessen hat - was Sie ja als Voraussetzung für Kreativität und Aussagekraft benennen?

Henning Mankell:
Ich glaube, das ist eine Frage des Erinnerns in seiner reinsten Form. Man darf nie vergessen, welche Gedanken und Gefühle man in jungen Jahren hatte. Und vor allem muss man sich an das uneingeschränkte Vertrauen in die Welt der Fantasie erinnern, das man als Kind hatte. Leider spielt so etwas wie "emotionale Erziehung" heute kaum mehr eine Rolle im europäischen Schulsystem, dabei brauchen Kinder diese, um zu starken und selbstbewussten Persönlichkeiten heranreifen zu können.

wissen.de:
Werden die Wallander-Bücher in Schweden wirklich inoffiziell für die Polizeiausbildung herangezogen, weil sie die bei Polizisten bestimmt gerne gesehene Kombination aus Instinkt, Logik sowie einer Verbindung aus Philosophie und Kunst bei der Polizeiarbeit in den Vordergrund stellen?

Henning Mankell:
Gehört habe ich das auch, ob es stimmt, kann ich nicht sagen. Aber es gibt sicher einige Polizeibeamte, die sich von meinen "Gedankengängen" bei der Polizeiarbeit inspirieren lassen.

wissen.de:
Sie bezeichnen die Wallander-Reihe nicht als Krimis, sondern als gesellschaftskritische Romane. Ist Wallander somit nur eine Art „Werkzeug“, um für Ihre moralischen Themen das Leserinteresse zu wecken?

Henning Mankell:
Ich bediene mich einer der ältesten literarischen Traditionen, die auf die alten griechischen Dramatiker zurückgeht. Ich versuche dem Verbrechen - ob es nun begangen wurde oder nicht - einen Spiegel vorzuhalten sowie die Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Einzelnen kritisch zu hinterfragen. Anhand dieses Spiegelbilds der Gesellschaft lässt sich trefflich über unser heutiges Leben sprechen.

wissen.de:
Wenn Sie den gesellschaftlichen Zustand aufzeigen wollen, warum scheuen Sie sich ausgerechnet davor, den Wallander-Roman rund um Kinderschändung zu Ende zu schreiben?

Henning Mankell:
Heute tut es mir Leid, dass ich den Roman über Kindesmisshandlung nicht fertig geschrieben habe. Ich hatte nicht die Kraft, dieses Thema mit aller Ehrlichkeit anzugehen, und dafür schäme ich mich ein bisschen. Es war das richtige Thema, das ich aber zur falschen Zeit angegangen bin. Es ist trotzdem gut möglich, dass ich mich der Kindesmisshandlung in Zukunft literarisch annehme.

wissen.de:
Würden Sie einer Hollywood-Verfilmung Ihrer Romane mit den entsprechenden Attributen zustimmen?

Henning Mankell:
Wenn die Vorraussetzungen stimmen, dann gerne. Aber es ist mir egal, ob der Film in Hollywood oder Peking gedreht wird.

wissen.de:
Ihnen geht es in der Analyse der politischen Entwicklung nach eigener Aussage um die Kluft zwischen Arm und Reich. Was sollen Bürger und Politiker Ihrer Meinung nach tun?

Henning Mankell:
Wir leben in einer schrecklichen Welt, das sollte jedem bewusst sein. Immer weniger haben immer mehr und immer mehr immer weniger - das darf nicht so weiter gehen. Fast alle wirklich großen Probleme kann man auf diesen Gegensatz von Arm und Reich zurückführen. Und deshalb gilt es auch diese Ungerechtigkeit als erstes zu bekämpfen, damit wir wieder auf eine bessere Welt hoffen können. Eigentlich müsste ich bei diesem komplexen Thema viel weiter ausholen, die Kluft zwischen Arm und Reich ist nur ein erster Erklärungsansatz.

wissen.de:
Sie sagen, Sie wollten immer Schriftsteller sein und wollen es den „Profis“ in der Politik überlassen, ein neues Sozialsystem zu schaffen. Das bedeutet vor allem für die reicheren Menschen Verzicht und unangenehme, einschränkende Maßnahmen. Ist es nicht sehr einfach, „nur“ darüber zu schreiben und anderen die Umsetzung zu überlassen?

Henning Mankell:
Seit ich denken kann, kümmere ich mich um politische und gesellschaftliche Fragen. Noch nie habe ich akzeptiert, dass man die wichtigen Entscheidungen den Politikern überlässt. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich viel Zeit und Energie in andere Dinge als die Schriftstellerei stecke.

wissen.de:
Können Sie aufgrund Ihres literarischen Engagements - unter anderem auch in Form Ihres eigenen Verlags „Leopard förlag“ - für Ihre Wahlheimat Afrika bereits Erfolge feststellen? Oder verpufft die Wirkung zwischen den zwar kraftvoll-poetischen Zeilen an der rauen, oft schrecklich trägen Wirklichkeit?

Henning Mankell:
Afrika hat mich eine Menge über die Kunst und das Schreiben gelehrt - aber auch das Leben. Aber es gibt keine einfache Antwort auf Ihre Frage. Ich glaube jedoch, um ein Beispiel heraus zu greifen, dass ich neue Ansätze gefunden habe, um nicht lineare und nicht chronologische Geschichten zu erzählen.

wissen.de:
Man bekommt als Außenstehender den Eindruck, dass Ihnen Romane wie „Der Chronist der Winde“ über Afrikas Straßenkinder die echte Verwirklichung als Autor sind.

Henning Mankell:
In gewisser Hinsicht stimmt das, aber in der Schriftstellerei habe ich keine Lieblingskinder. Jeder Text entsteht mit derselben Hingabe - auch dieses Interview.

wissen.de:
Haben Sie Wallander durch seine Tochter ablösen lassen, weil schon alles erzählt ist?

Henning Mankell:
Ganz im Gegenteil - durch die Augen der Tochter kann ich Vieles noch einmal aufgreifen und aus einem neuen Blickwinkel beleuchten. Kinder sind immer Experten ihrer Eltern.

wissen.de:
Wie gehen Sie an Ihre Romane heran? Sie betonen, bereits alles zu wissen, sogar die Anzahl der Seiten? Wie geht denn das?

Henning Mankell:
Ich bereite mich sorgfältig auf jedes neue Projekt vor. Man kann keine Geschichte erzählen ohne das "was?" und das „warum?" zu kennen. Eine detaillierte Planung gibt einem größeren Freiraum zu improvisieren.

wissen.de:
Sie haben so ziemlich alle Auszeichnungen erhalten, die man sich als Autor wünscht. Welche liegt Ihnen noch am Herzen?

Henning Mankell:
Mir sind alle gleich wichtig.

wissen.de:
Herr Mankell, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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