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Interview: Was ist Stottern und was kann man dagegen tun?

Die Wörter wollen nicht über die Lippen kommen, Konsonanten haken und wiederholen sich krampfhaft. Wer stottert, hat es nicht leicht. Doch immerhin fünf Prozent aller Kinder sind betroffen. Was man über diese Sprachstörung weiß und was man tun kann, erklärt die Logopädin und Stotterexpertin Patricia Sandrieser vom Katholischen Klinikum Koblenz im Interview zum Welttag des Stotterns am 22. Oktober.
Deutscher Bundesverband für Logopädie

Logopädin und Stotterexpertin Patricia Sandrieser vom Katholischen Klinikum Koblenz im Interview
Deutscher Bundesverband für Logopädie
Wann tritt Stottern erstmals auf und wie häufig ist es?

Sandrieser: Stottern beginnt typischerweise zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr. Statistisch gesehen beginnen Kinder mit 2.8 Jahren zu stottern. Weltweit stottern etwa 70 Millionen Menschen, das entspricht einem Prozent der Bevölkerung. Europäischen Studien zufolge sind ungefähr fünf Prozent  aller Kinder davon betroffen. Erfreulicherweise überwinden ca. 75 Prozent von ihnen das Stottern bis zur Pubertät ohne Therapie.

Wie gut ist das Stottern heute erforscht?

Sandrieser: Beim Thema Stottern verfügen wir heute über eine sehr breite Erkenntnisbasis. Da Stottern bei den Betroffenen in allen praktizierten Sprachen vorkommt, können wir Erkenntnisse von Wissenschaftlern aus aller Welt unabhängig von der jeweiligen Sprache nutzen. Dies unterscheidet die Forschungen zum Phänomen des Stotterns beispielsweise von wissenschaftlichen Studien zur Erforschung der Kindersprache, deren Ergebnisse aufgrund der grammatikalischen Unterschiede in den verschiedenen Sprachen oft nicht übertragbar sind. Diese "Universalität" des Stotterns ermöglicht Stotterexperten übrigens, diese Sprechstörung auch in Sprachen festzustellen, die sie selbst nicht beherrschen.

Was ist über die Ursachen des Stotterns bekannt?

Sandrieser: Die Ergebnisse der genetischen Forschung unterstützen die Meinung, dass Stottern genetisch bedingt ist. Dies ist für viele Eltern eine große Entlastung, denn Stottern wurde lange Zeit fälschlicherweise in eine Reihe mit psychischen Erkrankungen gestellt oder als Erziehungsfehler betrachtet. Seit die genetische Disposition geklärt ist, konzentriert sich die Forschung vor allem auf Fragen, die dazu dienen, möglichst effektive Behandlungswege zu finden: Welche Faktoren beeinflussen den Verlauf des Stotterns (Wer hört von selbst wieder zu stottern auf?). Welche Effekte hat welche Therapie? Welche positiven Erfahrungen werden in der Diagnostik und Erstberatung gemacht (best practice)?

Was können Logopäden für betroffene Kinder tun?

Sandrieser: Die meisten Kinder mit stottertypischen Sprachunflüssigkeiten überwinden diese ohne Therapie. Hier ist es vor allem wichtig, die Eltern über die Hintergründe dieses Phänomens gut zu informieren, damit sie ihr Kind unterstützen können und die Umgebung sensibilisiert wird. So kann vermieden werden, dass für das Kind zwischenzeitlich psychische Belastungssituationen entstehen, die gravierende Folgen haben können. Die Kunst der logopädischen Diagnostik besteht darin, eine Risikoabschätzung vorzunehmen und festzustellen, ob eine Indikation für eine logopädische Therapie vorliegt. Dafür ist es notwendig, eine Spontansprachprobe zu erheben, die Anzahl und Qualität der Stotterereignisse zu bestimmen und den bisherigen Verlauf vor dem Hintergrund der sonstigen (Sprach-)Entwicklung zu beurteilen. Wichtig ist dabei auch, ob das Kind mit sogenannten Begleitsymptomen (Zeichen von Anstrengung oder Anspannung, Mitbewegungen etc.) oder mit psychischen Reaktionen (Angst zu sprechen, Rückzug, Frustration) auf das Stottern reagiert.

Kann man Stottern heilen?

Sandrieser: Für das frühe Kindesalter liegen bewährte Therapiekonzepte vor, die bis zu 90 Prozent der Patienten helfen können. Allerdings kann keine bekannte Therapie für sich in Anspruch nehmen , jeden Stotternden zu heilen. Das bedeutet, dass auch bei optimaler Versorgung nicht alle Stotternden nach der Therapie völlig frei von Symptomen sind.

Daher muss eine seriöse Stottertherapie immer auch darauf abzielen, dass die Betroffenen sich auf ein Leben mit dem Stottern einstellen können. Ich betreue immer wieder Jugendliche, die nach einer Therapie zwar nicht völlig symptomfrei sind, die sich aber als kompetente Gesprächspartner verstehen und wissen, dass sie jederzeit alles sagen können, was sie wollen. Sie sind Klassensprecher und leiten Pfadfindergruppen und haben nicht (mehr) das Gefühl, dass das Stottern ihr Leben bestimmt.

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