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Islam und Islamismus: ein Gegensatzpaar

Muslime sind das Feindbild Nr. 1 in vielen europäischen Ländern. Dabei sind bei weitem nicht alle Anhänger des Islam demokratiefeindliche Islamisten.
Alexandra Mankarios, wissen.de

Stellen Sie sich vor, Ihre neuen Nachbarn ziehen ein: Ein Ehepaar mit südländischen Gesichtszügen, beide in langen Gewändern, der Mann mit Bart, die Frau mit Kopftuch. Viele Deutsche würden hier mit Vorbehalten reagieren – der religiöse und kulturelle Graben scheint unüberbrückbar groß. Eine freundschaftliche Beziehung mit den neuen Nachbarn, mit gegenseitigen Besuchen, gemeinsamem Lachen? Schwer vorstellbar. Vielleicht ist diese erste Einschätzung richtig und die neuen Nachbarn stellen sich als zu verschieden heraus. Vielleicht aber auch nicht – nur weil die neuen Nachbarn offenkundig gläubige Muslime sind, heißt das nicht, dass sie nicht herzliche, tolerante Menschen mit einer gesunden Portion Humor sein können.

 

Feindbild Islam und die Angst vor dem Islamismus

Spätestens seit dem 11. September 2001, als eine Gruppe hochqualifizierter, an deutschen Universitäten ausgebildeter arabischer Terroristen verheerende Attentate auf das World Trade Center und das Pentagon ausübte, stehen Muslime in unserer Gesellschaft auf der Liste der Feindbilder ganz oben. Auch Berichte über Regime wie die Schreckensherrschaft der Taliban in Afghanistan haben zu diesem negativen Image beigetragen.

Der Begriff „Islamismus“ fällt heute beinahe täglich in den Medien und im alltäglichen Sprachgebrauch ist immer häufiger von Islamisten die Rede, wenn einfach nur Muslime – Anhänger des Islam – gemeint sind. Aber wenn auch alle Islamisten Muslime sind, so ist doch längst nicht jeder Muslim ein Islamist.

Denn: Islamismus bezeichnet eine Haltung, die sich sehr eng an den religiösen Texten des Islam orientiert und daraus ein vollständiges Gesellschaftsmodell ableiten möchte. Das beinhaltet dann meist einige Regeln, die nur schwer zu unserer Auffassung der Menschenrechte passen, etwa wenn es um die Rechte der Frauen oder die Ahndung bestimmter Straftaten geht.

Wer allerdings glaubt, dass Islamisten damit automatisch besonders gläubige Muslime sind und „das wahre Gesicht des Islam“ enthüllen, sollte vorsichtig sein. Ein Vergleich aus dem Christentum: Viele evangelikale Kirchen, vor allem in den USA, legen die Bibel wörtlich aus, lehnen etwa die Evolutionslehre ab und versuchen, sie aus den Schulbüchern zu verbannen. Das macht sie aber nicht zu besonders „unverfälschten“ Christen, sondern nur zu einer Gruppe von Gläubigen, die einer ganz bestimmten, von der Mehrheit abgelehnten Religionsauffassung anhängen.


Ist der Islam eine gewalttätige Religion?

Muslimische Selbstmordattentäter mit dem Traum, direkt ins Paradies zu gelangen, drakonische Strafen wie Steinigungen für Ehebrecher und das Abhacken der Hände von Dieben zeichnen das Bild einer besonders aggressiven Religion.

Tatsächlich rechtfertigt der Koran die Anwendung von Gewalt in bestimmten Fällen. Dass der Islam aggressiver ist als andere Religionen, ist damit aber noch nicht bewiesen. Steinigungen gab es auch im Juden- und Christentum. Viele Jahrhunderte lang beriefen sich Christen auf Gott, als sie auf Kreuzzügen Gebiete Andersgläubiger eroberten oder während der Inquisition mit unvorstellbarer Grausamkeit vermeintliche oder tatsächliche Glaubensabweichler töteten. „Es gibt weit mehr Gewalt in der Bibel als im Koran“, erklärte 2007 die britische Religionswissenschaftlerin und ehemalige katholische Nonne Karen Armstrong im Gespräch mit der Münchner Journalistin Andrea Bistrich. „Die Vorstellung, dass der Islam sich durch das Schwert aufgedrängt hat, ist eine westliche Fiktion, erfunden zur Zeit der Kreuzzüge, als es aber westliche Christen waren, die brutale heilige Kriege gegen den Islam führten."

Mit anderen Worten: Wer die Gewalttätigkeit der Weltreligionen aufrechnen möchte, findet für alle Waagschalen reichlich Gewichte. Und wer eine Religion nur nach ihren überlieferten Texten beurteilt, läuft Gefahr, wichtige politische und historische Entwicklungen auszublenden – so zum Beispiel die lange Kolonialgeschichte Europas, die vermutlich einen erheblichen Anteil daran hatte, dass islamistische Strömungen in vielen arabischen Staaten heute einen gewissen Zulauf haben.

Als der Ägypter Hassan Al-Banna 1928 die Muslimbruderschaft gründete, wendete er sich damit vor allem gegen die britische Kolonialpolitik und die „westliche Dekadenz“, die seiner Ansicht nach mit der Protektoratsmacht im Land Einzug gehalten hatte. Heute gilt die Muslimbruderschaft als die erste islamistische Organisation überhaupt.

 

Der Koran: Gottes Wille im Originalwortlaut

Der Koran, das heilige Buch der Muslime, ist der zentrale Text, auf den sich der Islam bezieht. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf dieses vielzitierte Werk zu werfen.

Anders als die Bibel wird der Koran nie dem Sprachwandel angepasst, sondern liegt noch heute im Arabisch des 7. und 8. Jahrhunderts vor. Der Grund für diese Texttreue: Der Koran gilt als „unerschaffen“, als Gottes unverfälschtes Wort, das der Prophet Mohammed in mehreren Offenbarungen empfing und an seine Anhänger weitergab. Aus diesem Grund lehnt sich auch die gesamte religiöse Auslegung eng an den Korantext an. Der ist allerdings leider so wenig eindeutig wie die Bibel. Manche Stellen widersprechen einander, andere sind schwer zu verstehen und damit offen für ganz unterschiedliche Interpretationen.

Um Licht ins Dunkel zu bringen, haben sich im Lauf der Zeit verschiedene Rechtsschulen und Traditionen gebildet, die sich mit der Ableitung von konkreten Lebensregeln aus den religiösen Texten befassen. Neben dem Koran ziehen sie unter anderem die Sunna – die Lebensgeschichte des Propheten – und die Hadithe, Überlieferungen seiner Äußerungen, heran.

Ein Beispiel für die breiten Interpretationsmöglichkeiten des Korans ist der Beginn von Vers 256 in der zweiten Sure: „Es gibt keinen Zwang in der Religion.“ Frühere islamische Auslegungen betrachteten ihn schlicht als aufgehoben durch andere Koranverse oder als Rat Gottes an Mohammed in einer konkreten Situation. Islamwissenschaftler haben vermutet, dass es sich auch um einen Ausdruck des Bedauerns handeln könnte: „Leider können wir niemanden zum Glauben zwingen!“ Heute wird der Vers meistens als Beleg für die Toleranz des Islam gegenüber anderen Religionen angeführt. Das Beispiel zeigt: Wie man den Islam versteht, hängt nicht nur von historischen Texten, sondern auch von der aktuellen Situation ab. Dazu passt auch Vers 100 aus der dritten Sure: „Gott zürnt denen, die ihren Verstand nicht gebrauchen.“

Und was sagt das alles über die eingangs erwähnten neuen Nachbarn aus? Dass es gute Gründe gibt, sie erst einmal näher kennen zu lernen und danach zu urteilen, ob die kulturellen und religiösen Gräben wirklich so groß sind. Ein erster Willkommensbesuch kann das Eis von Anfang an brechen – es muss ja nicht gerade mit einer Flasche Rotwein als Gastgeschenk sein.

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