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Ist Glauben noch zeitgemäß?

Auf der Reeperbahn nachmittags um halb fünf: Eine bunte Besucherschar hat sich auf Hamburgs berühmter sündiger Meile eingefunden, viele Ältere sind darunter, viele haben sich blaue Schals um Hals oder Kopf gebunden. Ein großer Teil ist aus anderen Städten angereist, um heute hier zu sein: zum Eröffnungsgottesdienst des 34. Deutschen Evangelischen Kirchentags. Und das, obwohl vom Glauben heute im Leben kaum noch die Rede ist.
Alexandra Mankarios, Mai 2013

Der Spielbudenplatz im Herzen der Reeperbahn ist so überfüllt wie sonst nur zum Public Viewing beim WM-Finale. Freiwillige Pfadfinder-Helfer in leuchtend gründen Hemden und grimmige Security Guards in Schwarz versuchen, die Menschenmassen an den Sexshops, Cafés und Pommesbuden vorbei auf den überfüllten Platz zu lotsen.

Selbst ganz hinten, wo kein Blick auf die Bühne mehr möglich und die Übertragung durch das Echo der zahlreichen Lautsprecher kaum zu verstehen ist, geht gar nichts mehr. Die Menge nimmt es christlich gelassen. Während auf der Bühne ein Mitglied der Unternehmensleitung des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim die Predigt hält und der Vorzeige-Reeperbahn-Insider Corny Littmann den Kirchentagsbesuchern Tipps zur Abendgestaltung im Rotlichtviertel gibt („Vergessen Sie nicht: Kleine Sünden vergibt der liebe Gott sofort!“), packen die Besucher ihre Brotdosen aus und genießen den Sonnenschein, der heute auf die traditionell eher verregnete Hansestadt herablächelt. Dabeisein ist alles, das gottesdienstliche Unterhaltungsprogramm auf der Bühne ist höchstens das Tüpfelchen auf dem i.

 

Hoffnung auf Zuversicht

Kirchentagsgäste mit weniger Stehvermögen haben es sich in einem der zahlreichen Straßencafés gemütlich gemacht. Statt der Predigt beobachten sie ihre christlichen Mitstreiter, die sich noch immer durch die zähfließende Menge vorarbeiten. Einer der Cafébesucher ist Karl-Otto. Mit gepflegtem Bart, elegantem Sakko und Hemd hebt sich der 75-Jährige deutlich ab – von den vielen Christen in Ausflugsoutfit ebenso wie von den alteingesessenen St.-Pauli-Bewohnern, die an den Nebentischen den christlichen Ansturm auf ihr Viertel amüsiert oder genervt verfolgen.

Karl-Ottos äußerlicher Unterschied zum Rest der Menge spiegelt seine innere Distanz wieder. Neugier und vielleicht auch ein wenig Hoffnung auf ein Gemeinschaftsgefühl hätten ihn aus seinem Heimatort im Ruhrpott hierher geführt, berichtet er, obwohl er sich schon in seiner Jugend von der Kirche entfernt habe. Dass sich nur wenige Kirchentagsbesucher wirklich fein gemacht haben und dass der Eröffnungsgottesdienst ausgerechnet hier auf Hamburgs angeblich sündigster Meile stattfindet, nervt Karl-Otto – das habe sich seit seinem letzten Kirchentagsbesuch vor 57 Jahren in Frankfurt deutlich verändert. Sein Bild von Kirche und Glaube ist ähnlich alt wie seine Erinnerung an den damaligen Kirchentag, als die Erinnerung an den Krieg noch frisch war und das Motto lautete „Lasst euch versöhnen mit Gott“. Wenn Karl-Otto über den Glauben spricht, dann landet er schnell bei seiner eigenen Erinnerung an Krieg und Nachkriegszeit, an einen Lehrer, der anstelle des liebenden Gotts einen rächenden heraufbeschwor. Auch den geringen gesanglichen Schwung der Gottesdienstbesucher auf dem Spielbudenplatz führt Karl-Otto auf die deutsche Vergangenheit zurück – durch die Nazi-Zeit sei das gemeinsame Singen in Verruf und viel traditionelles Liedgut einfach in Vergessenheit geraten, bedauert er.

„Aber ohne ein göttliches Wesen kommen viele auch heute nicht aus“, sinniert er mit Blick auf die stimmschwache, aber dennoch beeindruckende Menschenmenge auf dem Platz, „man verliert ja angesichts der politischen Ereignisse in der Welt doch manchmal die Hoffnung ...“ Wenn es den Kirchentagsbesuchern gelänge, mit ein wenig Zuversicht nach Hause zu fahren, dann sei schon viel erreicht, findet er – und meint damit ganz sicher auch ein bisschen sich selbst.

 

Glaube und Politik – ein Widerspruch?

Das Motto des Kirchentags 2013 trifft den aktuellen Zeitgeist. „Soviel du brauchst“ lautet der Spruch, der auf den blauen Schals der Kirchentagsbesucher, an Plakatwänden in der ganzen Stadt zu lesen ist und sich auch in vielen der rund 2.500 Veranstaltungen wiederfindet.

Da gibt es zum Beispiel Gospel, Zeit, Gerechtigkeit oder Porträtfotografie soviel wir brauchen. Andere Veranstaltungen fragen, wie viel Ethik die Wirtschaft braucht und was eine starke Gesellschaft benötigt. In dem reichen Programmangebot findet garantiert jeder, ob Christ oder nicht, seine Interessen berücksichtigt. Synagogen- und Moscheeführungen rufen zu religiöser Vielfalt auf, Gewerkschaftsvertreter diskutieren über gerechte Arbeit und Soziologen über Armut, Frauenvereinigungen bieten Feminismus-Workshops an, Jugendliche klären Jugendliche über Rechtsextremismus auf. Zwar gibt es mit den „Bibelarbeiten“ und den Gottesdiensten auch ein dezidiert spirituelles Angebot, aber insgesamt gibt sich der Kirchentag weltoffen und gesellschaftspolitisch engagiert. Ein Widerspruch?

„Natürlich ist der Schwerpunkt für uns Christen unser Leben mit Gott, aber auch das Leben mit den Menschen“, erklärt Pastor Michael Fridetzky von der Hamburger Hauptkirche St. Trinitatis. „Glauben heißt ja auch, Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn man über Politik redet oder Ethik, ist das Teil unseres Glaubens. Unser Glaube ist nicht nur etwas Privates für unsere Seele, er soll ja auch die Welt mitgestalten.“

 

Hauptsache Zusammenhalt

Auch für Saskia (16), Ragna (15) und Mareike (20) sind weltliche und religiöse Bedürfnisse unmittelbar miteinander verknüpft. Die drei Pfadfinderinnen gehören dem großen Heer der freiwilligen Kirchentagshelfer an. Für sie ist die viertägige Fahrt nach Hamburg eine willkommene Abwechslung zu dem oft eintönigen Dorfleben im 60 Kilometer entfernten Wilstermarsch, ein kleines Abenteuer mit Gemeinschaftsgefühl und Großstadtflair.

„Ich hätte nie gedacht, dass man die Worte ‚Reeperbahn’ und ‚Kirche’ in einem Satz unterbringen kann“, sagt Saskia lachend. „Aber eigentlich war das eine coole Erfahrung.“ Auf die Frage nach Gott reagiert sie zögernd: „Ich würde ihn nicht als Gott bezeichnen, sondern als eine höhere Macht ...“ Im Zentrum steht für sie das Gemeinschaftsgefühl: „Ich bin der Meinung, dass der Glaube Gruppen bildet Zusammenhalt schafft. Vieles ist zusammen einfach leichter.“ Dass sie sich bei den christlichen Pfadfindern engagiert, hat auch handfeste weltliche Gründe: „Die Montagnachmittage wären sonst wahnsinnig langweilig!“

Ob der Glauben der drei Pfadfinderinnen an Gott auch ohne die Gemeinschaft überleben würde? Die zwanzigjährige Mareike ist skeptisch: „Man braucht schon eine Gruppe, mit der man seinen Glauben ausleben kann. Ohne die Pfadfinder würde ich vielleicht Weihnachten und Ostern zur Kirche gehen, wie das alle machen, und sonst wahrscheinlich sehr selten.“

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