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Kinematograph: Wie die Bilder laufen lernten

Ob Kinofilm, Youtube-Clip oder Fernsehen: Videos und andere Aufnahmen bewegter Bilder sind heute längst Alltag. Doch im Jahr 1895 erschienen die ersten Vorführungen eines neuartigen "Kinematographen" den Menschen fast wie Magie. Wie von Geisterhand projizierte der Apparat bewegte Szenen aus ihrem Alltag auf der Wand – zuvor gefilmt von den Brüdern Auguste und Louis Lumière. Am 13. Februar 1895 reichten sie das Patent für ihren ersten Kinematographen ein – das Kino war geboren.

Auguste und Louis Lumière

Gemeinfrei

Der Wunsch, Szenen aus dem Alltag aufzuzeichnen und sie so zu konservieren, hat eine lange Tradition: Schon seit Jahrtausenden halten Menschen ihre Erfahrungen in Zeichnungen und Bildern fest. Doch erst mit der Erfindung der Fotografie gelingt es, die Realität naturgetreu einzufangen - zunächst noch auf sperrigen Fotoplatten aus Glas, ab 1887 auch auf flexiblen Streifen aus Zelluloid. Durch eine dünne Bromsilberschicht werden diese Streifen zu belichtbarem Fotomaterial, eingestanzte Löcher am Rand ermöglichen es, diesen Rohfilm in der Kamera jeweils bildweise weiterzutransportieren. Diese Erfindung sollte zur entscheidenden Voraussetzung für die Erfindung des Kinematographen werden – des Geräts, das eine neue Ära einläutete.

Prinzip Daumenkino

Der Versuch, bewegte Szenen einzufangen und wiederzugeben, beginnt schon Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals nutzt man eine radähnliche Konstruktion, um nach dem Prinzip des Daumenkinos scheinbar bewegte Bilder zu erschaffen. Dabei werden mehrere Zeichnungen oder nacheinander aufgenommene Fotografien auf einer sich drehenden Scheibe angebracht.

Betrachtet man nun die schnell wechselnden Bilder durch einen Schlitz, scheint sich das Motiv zu bewegen. Dieses "Phenakistiskop" kann man mit Spiegeln und Beleuchtung zu einem einfachen "Film"-Projektor kombinieren.  Der große Nachteil jedoch: Die Produktion der Bilder für diese Geräte ist enorm aufwändig: Sie müssen einzeln gezeichnet oder fotografiert und dann auf dem Gerät montiert werden.

Das von der Firma Thomas Edisons entwickelte Kinetescope ist der erste Filmbetrachter. Innerhalb weniger Jahre entstanden in den Metropolen der USA und Europas zahlreiche Kinetoskop-Salons wie der rechts dargestellte in San Francisco (1895).

Historisch

Edisons Filmkamera und Kinetoskop

Eine Teillösung für dieses Problem finden im Jahr 1891/1892 Thomas Edison und seine Ingenieure. Dafür kombinieren sie den neuen Zelluloidfilm mit einem Apparat, der automatisch schnell hintereinander Fotos auf den Film bannt – die erste Filmkamera. Dieser Kinetograph nutzt eine Art Zahnrad, um den Zelluloidstreifen über die Lochstreifen am Rand am Objektiv vorbeizubewegen. Diese Kamera kann immerhin schon 46 Aufnahmen pro Sekunde aufzeichnen.

Der fertig entwickelte Filmstreifen wird dann zum Vorführen in ein zweites Gerät eingespannt, das Kinetoskop. Dieses bewegt die Bilder mit einem kleinen Elektromotor kontinuierlich vor einer Glühlampe vorbei, eine Schlitzblende macht dabei jedes Bild für kurze Zeit sichtbar – es entsteht der Eindruck eines Films. Diese 1893 auf der Weltausstellung in Chicago vorgestellte Technik erfreut sich einiger Beliebtheit, es entstehen sogar Kinetoskop-Salons.

Von einem Kino ist Edisons Filmtechnik aber noch weit entfernt. Denn die Kinetoskope projizieren den Film nicht an eine Wand. Stattdessen kann man die Filme nur durch ein kleines Guckloch im Kinematoskop-Kasten sehen. Ein gemeinsamer Filmgenuss ist daher noch nicht möglich.

Cinématographe Lumière - die Kamera dient bei den Vorführungen als Projektor.

Vom Guckkasten zur großen Leinwand

An diesem Punkt kommen die Brüder Auguste und Louis Lumière ins Spiel. Als Söhne eines Fotoplattenherstellers verfügen sie über einige Erfahrung mit der Fototechnik und auch über das nötige Geld, um nach einer besseren Methode für die Produktion und Projektion bewegter Bilder zu suchen. "Mein Bruder Louis und ich hatten uns gesagt, wie interessant es doch sei, einem größeren Publikum auf einer Leinwand bewegte Objekte und Personen wirklichkeitsgetreu zu zeigen", schildete Auguste Lumière später ihre Motivation.

Im Laufe des Jahres 1894 entwickeln die Brüder Lumiére ein Gerät, dass genau dies ermöglicht – den  Kinematographen. Der Clou dabei: Dieses Gerät ist Filmkamera und Projektor in einem. Dank eines neuartigen Greifermechanismus, den sich die Brüder bei der Nähmaschine abgeguckt haben sollen, wird der unbelichtete Filmstreifen in diesem Gerät schnell, aber ruckartig vorwärts bewegt. Dadurch hält jedes einzelne Filmbild bei der Aufnahme gerade lange genug inne, um ohne Bewegungsunschärfe belichtet zu werden. Der belichtete Filmstreifen wird dann automatisch in einer Metallkassette aufgerollt und dort entwickelt. Um den Film dann zu projizieren, wird der Filmstreifen ebenfalls bildweise an einer Lichtquelle vorbeigeführt.

Die ersten Filmvorführungen

Am 13. Februar 1895 ist es soweit: Die Brüder Lumière haben ihren Kinematographen soweit fertiggestellt, dass die die Technik zum Patent anmelden können. Im Dezember 1895 beginnen sie in Pariser Cafés mit den ersten öffentlichen Vorführungen ihrer Filme – mit durchschlagendem Erfolg. Die Menschen sind von dem Anblick herumlaufender Menschen, reitender Soldaten oder arbeitender Menschen in einer Fabrik fasziniert. Zum absoluten Hit wird ein Film, der einen einfahrenden Zug zeigt – er scheint auf die Zuschauer zuzufahren. Schon wenige Tage nach der ersten Vorführung bilden sich lange Schlangen von Menschen, die unbedingt einen dieser Filme sehen wollen.

Die Brüder Lumière erweisen sich als geschickte Unternehmer: Statt ihre Geräte oder ihr Patent sofort zu verkaufen, behalten sie erst einmal das Monopol auf ihren Kinematographen. Sie bilden Angestellte als Kameramänner und Vorführer aus und schicken dies jeweils mit einem Kinematographen auf Reisen. Diese Mitarbeiter drehen dann tagsüber in Städten wie London, Wien, Köln und Berlin, aber auch Tokio und Bombay Alltagsszenen auf der Straße und führen sie wenig später abends bei den Vorführungen vor. Das Publikum sieht die Szenen aus ihrer eigenen Stadt und ist entsprechend begeistert.

Werbeplakat für den 1895 gedrehten Kurzfilm "Der besprengte Gärtner" ("L'Arroseur Arrosé").

Marcellin Auzolle / Historisch

Die Ära des Kinos beginnt

Erst 1905 verkaufen die Brüder Lumière ihr Patent an den Unternehmer Charles Pathé. Dieser entwickelt den Kinematographen zur ersten Studiokamera weiter und konstruiert eine ganze Palette vor Ausrüstungsobjekten, Geräten und Zubehör für die Filmerstellung und -projektion. Pathé wird so zur ersten Filmfirma und zum ersten Kinobetreiber. Schon 1909 besitzt das Unternehmen mehr als 200 Kinos in verschiedenen Ländern Europas, ein Jahr später eröffnen erste Pathé-Kinos in New York und Tokio. Damit beginnt die Ära des Kinos.

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