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Kuschelpädagogik versus Leistungswahn

Niemand hatte vor der Veröffentlichung der PISA-Studie erwartet, dass Deutschland den Klassenprimus geben könnte, aber dass es so dick kommen würde, hat dann doch so manchen überrascht. Das deutsche Bildungssystem versagt auf ganzer Linie, selbst dort noch, wo auch Kritiker es keineswegs erwartet haben. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute lautet: man kann es offenkundig auch besser machen fragt sich nur wie. Die Studie gibt dazu keine eindeutige Auskunft. Die Spitzenplätze halten einerseits Finnland, andererseits Japan und Südkorea und damit zwei Schulsysteme und zwei pädagogische Konzepte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: ein zukunftsorientiertes, dialogisches hier und ein extrem restriktives und autoritäres dort. Beide sind erfolgreich, aber sind deswegen beide auch nachahmenswert?

Wie wird in Deutschland gelehrt?

Das gezielte Fördern sozial schwacher sowie fremdsprachiger Kinder muss an Deutschlands Schulen verbessert werden.
dpa

Der Volksmund sagt, nur bittere Medizin helfe wirklich. Es konnte nicht verwundern, dass die guten alten Mythen konservativer Schulpolitik nach PISA eine Renaissance erlebten. Im Prinzip, so die Argumentation, ist das deutsche Schulsystem bestens, nur wird es eben zu lasch gehandhabt. Gefordert wird: mehr Konkurrenz, verschärfte Auslese, Elitenförderung, “D-Zug-Klassen. Der Schlüssel zum Problem, so geben viele Politiker zu verstehen, sei mangelnde Leistungsbereitschaft sei es seitens der Lehrer oder der Schüler.

Alles nur eine Frage des Willens? Die meisten Bildungsexperten sind anderer Ansicht. Zu den auffälligsten Befunden dürfte zählen, dass bemerkenswert viele Jugendliche erhebliche Schwierigkeiten haben, Kausalverhältnisse zu erkennen und aus ihnen praktische Schlüsse zu ziehen. Deskriptiv könnte man sagen: es mangelt ihnen an praktischem Lebenssinn und an gesundem Menschenverstand. Die zweite Überraschung: ausgerechnet der Sozialstaat Deutschland hat in sozialer Segregation selbst noch die viel gescholtenen Vereinigten Staaten überholt.

Insbesondere der letzte Punkt betrifft die Strukturen des deutschen Bildungssystems. Die Aufteilung der Kinder nach dem 4. Schuljahr ist weltweit nahezu einmalig, im europäischen und angloamerikanischen Bereich gibt es sie nirgendwo. In den erfolgreichen Ländern bleiben die Kinder neun, zehn oder, wie in Kanada, sogar 12 Jahre in einem Klassenverband. Fast überall gibt es ein flächendeckendes Ganztagsangebot. Schon im vorschulischen Bereich wird die Integration fremdsprachiger und sozial schwacher Kinder gezielt und erfolgreich gefördert.

Der andere Punkt betrifft die Arbeit in den Klassenräumen. Das vorherrschende Modell der Lehrer fragt, der Schüler antwortet ist für alle Beteiligten psychisch extrem anstrengend, außerdem von geringem Erkenntniswert. Allein den Lehrern in die Schuhe schieben kann man das nicht. Die deutschen Lehrpläne sind die vollsten der Welt und begünstigen schon deshalb den Frontalunterricht. Auch hier werden die Strukturen des Bildungssystems berührt: Handlungsorientiertes und dialogisches Lernen sind in den engen Zeitplänen der Curricula nicht vorgesehen.

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