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Lunar Sensation - Alles über Nacht

von Sabine Fortmann

"Entschuldigen Sie, ist dieser Platz noch frei?" Er deutete auf den Stuhl neben ihr, schaffte es aber, einen Blickkontakt zu vermeiden. Er dachte, wenn sie anscheinend beide auf jemanden warteten, könnten sie ja vielleicht auch zusammen warten. Schließlich war das Café ansonsten menschenleer. Sie musterte ihn und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Denn bei seinem Anblick schoss ihr augenblicklich ein Sprichwort durch den Kopf: Wie gewollt und nicht gekonnt. Sie brauchte jedoch eine Weile, bis ihr klar wurde, woher dieser Eindruck rührte: Seine Hose hing ein bisschen zu hoch, sein Hemd war ein bisschen zu eng und seine Sakkoärmel ein bisschen zu kurz. Sie erinnerte sich daran, weswegen sie hier war und das Lächeln schwand von ihren Lippen. "Tut mir leid, ich erwarte noch jemanden", wies sie ihn barsch zurück und konnte sich nicht verkneifen hinzuzufügen: "Aber unter den vielen freien Plätzen hier findet sich doch sicherlich auch noch ein zweiter, der Ihnen eventuell zusagt, nicht?" Demonstrativ hob sie ihre Zeitschrift an und schlug sie auf. Der Kerl konnte ja nicht wissen, dass sie das Magazin in der vergangenen halben Stunde schon zwei Mal von vorne bis hinten durchgelesen hatte, inklusive des Kleingedruckten der Werbeanzeigen und des Impressums. Das las sie sonst nie.

Unschlüssig schaute er sich um. Das Café war leer und nicht schön, im Gegenteil, man könnte es als heruntergekommen bezeichnen. Die Dämmerung, die langsam aber unaufhaltsam durch die Fenster hineinkroch, ließ es noch ungemütlicher erscheinen als vorhin bei seiner Ankunft. Er machte einen Schritt auf den Nebentisch zu, sah sich um, machte zaghaft ein paar Schritte in Richtung Fenster und entschied sich schließlich für einen Hocker zwei Tische weiter. So würde er die Privatsphäre der Dame wahren, redete er sich ein, obwohl ihm bewusst war, dass solange keine weiteren Gäste mehr kamen (und, ganz im Ernst, woher sollten die kommen?), er so oder so ihr Gespräch würde mithören können, egal, wo in diesem Laden er saß. Dafür war dieses Bahnhofscafé am Ende der Welt einfach nicht groß genug. Aber, sagte er sich, Bahnhofscafés sind schließlich auch nicht dafür gedacht, Privatsphären zu wahren. Das machten schon Beichtstühle, Wahlkabinen und Postbankwarteschlangen. Bahnhofscafés waren dazu gedacht, seine Sehnsüchte zu pflegen und sich in Selbstmitleid zu ergehen, während man auf die Verabredung wartet, die nie kommt oder den Zug, in den man nie einsteigt. Bahnhofscafés waren die Wartesäle des Lebens, die Abstellgleise für Versager wie ihn. Aber heute würde sich alles ändern. Ab heute Nacht würde er kein Versager mehr sein, da war er sich sicher. Ein nervöser Blick auf die Uhr ließ diese Sicherheit jedoch schwinden.

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