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Neonazis in Deutschland

Als der 38jährige Blumenhändler Enver Şimşek am 9. September 2000 die Urlaubsvertretung am Blumenstand eines Kollegen antritt, ahnt er nicht, dass sein Leben bald brutal enden wird. Gegen Mittag tauchen zwei Fremde auf, schießen Şimşek mit acht Schüssen kaltblütig nieder, verschwinden. Der türkische Blumenhändler stirbt zwei Tage später im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Der Mord an Şimşek ist nur der Auftakt zu einer ganzen Mordserie an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund, von den Tätern fehlt jahrelang jede Spur, das Motiv bleibt unklar. Erst im November 2011 kommt ans Licht, dass die Morde wahrscheinlich auf das Konto der rechtsterroristischen Organisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gehen. Ein extremistischer Einzelfall oder eine wachsende Gefahr? wissen.de über die rechtsextreme Szene in Deutschland.
von wissen.de-Redakteurin Alexandra Mankarios, April 2013

Netzwerke rechtsaußen

Rechtsaußen
Picture-Alliance GmbH, Frankfurt/Bernd Settnik
Rechtsextreme Alltagssorgen, in einem Internetforum öffentlich nachzulesen: Ein Besucher möchte wissen, ob ihm Ärger drohe, weil die Polizei seine Hakenkreuzfahne beschlagnahmt habe. Ein anderer fragt nach Meinungen zu seinem Plan, sein Kind auf eine Waldorfschule zu schicken. Da sei „zwar auch nicht alles perfekt, aber wenigstens kaum Ausländer.“ Die Benutzer heißen „White Devil“, PureHate“ oder „Eichmann888“. Ihre Usernamen und Einträge zeugen zwar deutlich von ihrer rechten Gesinnung, wirklich volksverhetzende Äußerungen sind allerdings im öffentlichen Bereich des Forums nicht leicht zu finden. Die Betreiber sind sich bewusst, dass ihre Aktivitäten beobachtet werden. In den Forenregeln heißt es unter anderem: „Das Leugnen des Holocaust ist in unserem Forum strengstens untersagt. Bei Zuwiederhandlung werden entsprechende Beiträge/Themen umgehend von uns gelöscht. Bei mehrfachen Verstößen werden wir entsprechende Benutzer sperren.“

Die rechte Szene ist vorsichtig. Jahr für Jahr werden neue Neonazi-Organisationen verboten, Foren geschlossen, Internetseiten gelöscht. Auch der NPD, dem bislang legalen Arm der rechtsextremen Szene, droht ein Verbot, seitdem Kontakte zwischen einem NPD-Politiker und dem NSU bekannt geworden sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass noch mehr hochrangige Parteimitglieder unter der auf Übereinstimmung mit dem Grundgesetz polierten Parteifassade mit illegal arbeitenden Neonazi-Organisationen kooperieren, ist hoch.

Deren Struktur ist perfekt auf das Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicherheitsbehörden abgestimmt: Ein enges, aber informelles Netzwerk verbindet zahlreiche lokale „Kameradschaften“, häufig mit weniger als zehn Mitgliedern. Sie zu verbieten ist behördlich, wenn überhaupt, nur mit erheblichem Aufwand möglich. Daneben ist die im Jahr 2000 verbotene deutsche Sektion des europaweit aktiven Neonazi-Netzwerks Blood & Honour unter dem Namen Division 28 ungebrochen aktiv, wenn auch weniger sichtbar. Ihre Mitglieder organisieren unter falschem Namen Konzerte mit rechtsradikalen Bands, zudem unterhält Blood & Honour einen „bewaffneten Arm“. Auch die mutmaßlichen NSU-Täter Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sollen Ende der 90er Jahre dem Netzwerk angehört haben.

Die dezentrale Organisationsstruktur bringt der Neonaziszene einige Vorteile: Die Gruppen sind sichtbar genug, um Nachwuchs anzuwerben, bieten aber wenig Einblick in Ihre Aktivitäten. Anders gesagt: Wer Neonazis treffen möchte, findet heraus, wo er das tun kann. Wer Insiderwissen erlangen möchte, muss seine Vertrauenswürdigkeit erst persönlich unter Beweis stellen.

 

Gewalt gehört zur Ideologie

„Der Glaube an die Sache ist das, was niemals schwindet. Gemeinsam werden wir unseren Weg gehen. Zusammen siegen oder untergehen. Wir sind nationale Sozialisten. Und stehen auch dazu ...“ – in ihrem Song "Streetfighting Crew" gibt sich die in rechtsextremen Kreisen sehr bekannte Band Oidoxie kämpferisch. Dass das nicht nur Parolen sind, legt ein Bericht der WAZ nah, demzufolge der Oidoxie-Sänger Mark Gottschalk zwischen 2002 und 2006 versucht habe soll, eine Terrorzelle aufzubauen und Waffen zu besorgen – finanziert von Konzerterlösen.

Dass die kämpferischen – und in früheren Jahren auch offen rechtsradikalen – Texte der Band gut bei vielen Neonazis ankommen, hängt eng mit der rechtsextremen Ideologie zusammen. „Gewalt, Krieg und Kampf spielen in dieser Weltanschauung eine beinahe religiöse Rolle“, erklärt Daniel Köhler, wissenschaftlicher Leiter des Berliner Institute for the Study of Radical Movements (ISRM) und der Organisation EXIT Deutschland, die ehemalige Rechtsradikale beim Ausstieg aus der Szene unterstützt. „Auch wenn sich die einzelnen Gruppen in ihren Ausrichtungen unterscheiden, teilen Sie alle eine Auffassung, die in wertes und unwürdiges Leben unterteilt – und das werte Leben bewährt sich im Kampf. Nur so ‚funktioniert’ die Ideologie.“

 

"Unbegrenztes Gewaltpotenzial"

Das NSU-Trio: Uwe Mundlos (l.), Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt
Picture-Alliance GmbH, Frankfurt/Bundeskriminalamt
Durchschnittlich zwei bis drei rechtsextrem motivierte Gewalttaten finden jeden Tag in Deutschland statt, Tendenz steigend. 828 Fälle von politisch motivierter Gewalt aus dem rechten Lager zählte das Bundesinnenministerium 2011, der überwiegende Teil davon Körperverletzungen. 2012 seien die Zahlen, so Innenminister Hans-Peter Friedrich gegenüber dem Berliner Tagesspiegel im März 2013, noch einmal um zwei Prozent gestiegen.

Köhler ist von den hohen Zahlen nicht überrascht. „Das Gewaltpotenzial der rechtsextremen Szene ist prinzipiell unbegrenzt“, vermutet der Wissenschaftler. „Schätzungen gehen davon aus, dass es in Deutschland mindestens 20.000 gewaltbereite Rechtsextreme mit einem gefestigten ideologischen Weltbild gibt.“ Hinzu komme die in sich aktionsorientierte, kampfbereite Ideologie, außerdem sei in der Szene seit Jahren das Wissen um Kampftechniken, Strategien, Sprengstoffherstellung sowie der Zugang zu Waffen vorhanden – zum Beispiel durch militär- oder polizeinahe Aktivisten wie den 1991 verstorbenen ehemaligen Bundeswehr-Leutnant Michael Kühnen.

 

Ausländerfeindlichkeit als Einstiegsdroge

Noch viel häufiger als durch Gewalttaten treten Neonazis strafrechtlich durch „Propagandadelikte“ in Erscheinung – 11.401 waren es laut Verfassungsschutzbericht 2011. Die rechte Szene ist aufs Rekrutieren aus. Und findet in Deutschland einen wachsenden Nährboden.

Aktuelle Zahlen zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland liefert eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild konnten die Wissenschaftler bei knapp jedem zehnten (neun Prozent) der 2.415 Befragten ausmachen, in Ostdeutschland sogar bei 15,8 Prozent.

Ausländerfeindlichkeit – laut den Wissenschaftlern die „Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus“ – attestiert die Studie einem Viertel der Befragten, in Ostdeutschland sogar jedem dritten. Weit verbreitet scheint eine islamfeindliche Haltung in der Gesellschaft zu sein. Bereits 2010 hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung erhoben, dass über die Hälfte der Bevölkerung (58,4 Prozent) der Ansicht war, man müsse die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit für Muslime einschränken. Ein breiter Nährboden, vielleicht sogar ein Erfolg rechtsextremer Agitatoren. „Es ist ja nicht nur das Ziel der Neonazis, die Gesellschaft zu zerstören, sondern man will sie ja auch in Teilen verändern und Nachwuchs werben“, erklärt Köhler. „Islamfeindlichkeit als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat massiv um sich gegriffen in der deutschen Bevölkerung, und da docken die natürlich an.“

Ideologische Unterstützung erhalten die Neonazis von der seit einigen Jahren stark wachsenden rechtspopulistischen Strömung in Deutschland, die ihren Ursprung in rechtskonservativen bürgerlichen Kreisen hat – beispielsweise die Pro-Bewegungen in Nordrhein-Westfalen. Auch wenn sich deren öffentliche, bieder-bürgerliche Vertreter in Habitus und Herkunft von militanten, jugendlichen Neonazis erheblich unterscheiden, haben beide Gruppen ideologisch viel gemeinsam und unterhalten enge Kontakte. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalens, der mehrere Pro-Bewegungen unter dem „Verdacht einer rechtsextremen Bestrebung“ genau beobachtet, stellt zum Beispiel zur Partei "Bürgerbewegung 'Pro-NRW'" fest: „Die Aussagen von ‘pro NRW’ sind von Ausländerfeindlichkeit, insbesondere von Muslimfeindlichkeit gekennzeichnet. Die Partei missachtet damit tragende Grundsätze der Verfassung, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot.“

Ein Wolf im Schafspelz? Brandanschläge werde man in den rechtspopulistischen Parteien vermutlich nicht planen, schätzte kürzlich Johannes Baldauf, Senior Researcher der Amadeu-Antonio-Stiftung, die mit Aufklärungskampagnen gegen Rechtsextremismus vorgeht, in einem Interview mit dem Münchner Radiosender M94,5. „Aber die Pro-Bewegungen leisten natürlich einen erheblichen Beitrag, wenn es darum geht, eine rassistische Weltanschauung wieder salonfähiger zu machen.“

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