wissen.de Artikel

Oktober 1938: Hitler marschiert ins Sudetenland ein

„In Grulich, der ersten Stadt hinter der Grenze, begeisterter Empfang. […]Dicht gedrängt stehen die Menschen auf dem Marktplatz, kaum dass die Musik von den Heilrufen der Bevölkerung zu hören ist. Das ist keine leere Begeisterung. Das ist wahre Freude. […]und es wird uns dabei so ganz anders. Etwas Unbeschreibliches geht durch uns. Vielleicht ist es die Genugtuung, diesen unseren Brüdern und Schwestern helfen zu können“.
von Susanne Böllert, wissen.de, Oktober 2013

Gerührt schildert Wehrmachtssoldat Herbert Wetzig (1914 bis 1942) in seinem Tagebuch den begeisterten Empfang, den die sudetendeutsche Bevölkerung Hitlers Soldaten bereitete, als diese zwischen dem 1. und 10. Oktober 1938 in die Tschechoslowakei (ČSR ) einmarschierten und die Grenzgebiete Böhmens und Mährens „befreiten“. Denn als Befreier fühlte sich Herbert Wetzig ja offensichtlich. Ein Viertel der Bevölkerung der ČSR wurde mit der im Münchner Abkommen vom 29. September beschlossenen Besetzung „heim ins Reich“ geholt, ein Fünftel der Gesamtfläche des Nachbarlandes zum Reichsgau Sudetenland ernannt.  


Wie aber konnte es zu diesem Ereignis kommen, auf das der Zweite Weltkrieg und letztendlich die Vertreibung der gesamten deutschen Bevölkerung aus dem Sudetenland (knapp drei Millionen Menschen) folgen sollte? Wie erklärt sich der Jubel, der dem „Befreier“ Adolf Hitler wie schon 1935 im Saarland und im März 1938 in Österreich nun auch in den tschechischen Grenzgebieten entgegenschlug? Hatten Deutsche und Tschechen doch viele Jahrhunderte lang problemlos zusammengelebt, bevor die weitgehend friedliche Koexistenz mit dem Einmarsch vor 75 Jahren  zerstört wurde.

Frauen begrüßen deutsche Truppen in Eger
Corbis-Bettmann, New York

Friedvolles Nebeneinander von Tschechen und Deutschen

Begonnen hatte das friedvolle Nebeneinander von Tschechen und Deutschen im Sudetenland, das erst viel später diesen Namen bekommen sollte, bereits im 12. Jahrhundert, als böhmische Kaiser und Könige deutsche Bauern, Bergleute, Handwerker, Kaufleute und Künstler ins Land riefen, um besonders die wenig besiedelten Randgebiete zu kultivieren. Und sie kamen: Die Bayern siedelten im Süden und Westen, die Sachsen im Norden, die Schlesier im Osten. Die unterschiedliche Herkunft der deutschen Vorfahren erklärt, warum sich die Sudentendeutschen lange nicht als homogene Einheit betrachteten, sondern unterschiedliche Traditionen und Mundarten pflegten. Zur Einheit, nämlich zu der einer politischen Minderheit, wurden sie erst 1918. Doch dazu später.

Wie sehr die Zugewanderten, darunter auch viele jüdische Immigranten, an der Wirtschaftsblüte des böhmisch-mährischen Raums beitrugen, sei am Beispiel der deutschen Bergleute verdeutlicht, auf die die Edelmetallgewinnung und die Entstehung der Bergbaustädtchen Goldberg, Reichenbach im Eulengebirge oder Schmiedeberg im Riesengebierge zurückgeht. Im Mittelalter wurde die Weberei immer wichtiger. Glashütten und Papierfabriken folgten ab dem 16. Jahrhundert – die Gegend war von einem außerordentlichen Holzreichtum gesegnet. Porzellan-, Leinen- und Baumwollindustrie waren weitere bedeutende Wirtschaftsfaktoren für das Land, das sich Sudeten und Deutsche teilten und das schon vor dem Zuzug der deutschen Siedler zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zählte.

Denn Böhmens Landespatron Herzog Wenzel I. hatte 929 den deutschen König als Lehnsherrn anerkannt. Und knapp 200 Jahre später erhielten die böhmischen Herzöge die erbliche Königswürde. Sie wurden zu mächtigen Reichsfürsten. Welche bedeutende politische Rolle das Sudetenland für das Heilige Römische Reich spielte, machte Kaiser Karl IV. deutlich, als er Böhmens Hauptstadt Prag zum Regierungssitz machte und hier 1348 die erste Universität auf deutschsprachigem Boden errichten ließ.

 

Aufkommende nationalistische Bewegungen

Nur einmal im Laufe der langen Geschichte der Sudetendeutschen unterbrach eine kriegerische Auseinandersetzung das friedliche Zusammenleben mit den tschechischen Bewohnern: In den Hussitenkriegen zu Beginn des 15. Jahrhunderts brachen sich religiöse und soziale Konflikte, aber auch nationaltschechische Bestrebungen Bahn. Viele Deutsche, besonders in Innerböhmen, verloren ihr Leben, wurden vertrieben oder assimiliert.
Im Erbgang fiel das Königreich Böhmen 1526 an das Haus Habsburg. Als Teil Österreichs blieb es bis 1806 römisch-deutsch und von 1815 bis 1866 zählte es zum Deutschen Bund. Als 1848 die erste deutsche Nationalversammlung stattfand, schickten die Sudetendeutschen ihre Gesandten wie alle anderen Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches auch in die Frankfurter Paulskirche.

Die im 19. Jahrhundert nach der Französischen Revolution aufkommenden nationalistischen Bewegungen hinterließen ihre Spuren jedoch auch in Böhmen und Mähren, Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen traten zu Tage. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts identifizierte sich die deutschsprachige Bevölkerung immer mehr mit der Bezeichnung „Sudetendeutsche“, die der Geograph Franz Jesser 1902 in Anlehnung an das Sudetengebirge geprägt hatte.

 

"Heimkehr ins Reich"

Das Jahr 1919 machte die Sudetendeutschen endgültig zu einer politischen Minderheit in einem Land, das nun nicht mehr die Heimat, sondern eine fremde Nation war. Nach dem verlorenen Weltkrieg regelten die Siegermächte in den Pariser Vorortverträgen die Zugehörigkeit zur neu gegründeten Tschechoslowakei. Nicht nur geschah dies gegen den Willen der Sudetendeutschen, sondern sahen sich diese in den folgenden Jahren zusätzlich wirtschaftlichen und politischen Benachteiligungen durch die tschechische Regierung ausgesetzt.

Die antitschechische Stimmung und die stärker werdenden Autonomiebestrebungen im Sudetenland kamen Adolf Hitlers Expansionsplänen entgegen. Skrupellos instrumentalisierte der Diktator die Fürsprecher eines freien Sudetenlands für eigene Zwecke. Nun sahen die meisten Deutschen in Böhmen und Mähren nicht mehr den Autonomiestatus, sondern die „Heimkehr ins Reich“ als einzige zu akzeptierende Perspektive an.

Münchner Abkommen
thinkstockphotos.de/Getty Images/Photos.com

Hitler zum Fraß vorgeworfen

Durchsetzen konnte Hitler die Einverleibung des Sudetenlandes bei den Westmächten im Münchner Abkommen mit dem Versrechen, keine weiteren territorialen Ansprüche zu erheben und nicht in das Restgebiet der Tschechoslowakei einzudringen. Zwei Versprechen, die der unterschätzte „Führer“ nur wenig später brach. Das von Arthur Chamberlain, Édouard Daladier und Benito Mussolini unterzeichnete Abkommen gilt heute als größte Fehleinschätzung in der Appeasement-Politik, mit der die Alliierten den Ausbruch eines erneuten Weltkrieges zu verhindern suchten.

Tatsächlich hatte man Hitler das Sudetenland viel zu leichtfertig zum Fraß vorgeworfen. Denn der ausgebliebene Widerstand bestärkte den Diktator, seine Machtansprüche in Europa mit wachsender Gewalt voranzutreiben. Wer sollte ihn stoppen? Für die fatale Entwicklung in den späten 30er Jahren bezahlt haben am Ende die drei Millionen Sudetendeutsche, die wie die Schlesier oder Banatschwaben nach der Kapitulation Deutschlands beinah vollständig aus ihrer jahrhundertealten Heimat vertrieben wurden und versuchen mussten, im Nachkriegsdeutschland Fuß zu fassen. Bis heute fordert die Sudetendeutsche Landsmannschaft bei der Tschechei das Heimat- und Rückkehrrecht ein.

Mehr Artikel zu diesem Thema

Weitere Lexikon Artikel

Weitere Artikel aus dem Wahrig Fremdwörterlexikon

Weitere Artikel aus dem Bereich Gesundheit A-Z

Weitere Artikel aus der Wissensbibliothek

Weitere Artikel aus dem Großes Wörterbuch der deutschen Sprache

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch

Weitere Artikel aus dem Vornamenlexikon