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Pandemie mit Nebenwirkungen - die mentale Gesundheit auf dem Prüfstand

Mehrere Wochen im Lockdown, kein Feiern, keine Veranstaltungen, soziale Distanz, Homeoffice und Maskenpflicht - die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus prägen. Nach mehr als vier Monaten der Krise spüren viele Menschen nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Folgen – auch die psychische Belastung ist erheblich. Welche Folgen hat die Corona-Pandemie auf die mentale Gesundheit? Und wie kann man sich davor bewahren?
ABO, 03.08.2020

Nach mehr als vier Monaten der Krise ist auch die psychische Belastung für viele Menschen erheblich.

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Heutige Generationen mussten bisher nie mit einer weltweiten Krise wie der Corona-Pandemie umgehen – das weckt Ängste und erzeugt Stress. Unabhängig davon, ob es sich um Erwachsene, Vorerkrankte oder jüngere Menschen handelt, belasten auch die nötigen Maßnahmen die mentale Gesundheit.

Nicht ohne Grund heißt es, dass Menschen Gewohnheitstiere sind: Der Wegfall des regulären Schul- und Arbeitsalltags, aber auch die eingeschränkten Freizeitangebote lösen ungewohnte Belastungen aus. Insbesondere die mangelnden Möglichkeiten, seinen Tagesablauf beizubehalten, sich beim Sport auszupowern oder kreativ zu sein, führen nachweislich zu erhöhtem Stress. Vorerkrankte haben mit dieser Umstellung noch einmal mehr zu kämpfen.

Wer ist am stärksten betroffen?

Am stärksten betroffen sind häufig Alleinstehende und alte Menschen, die aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos sehr wenig Kontakt zu ihrer Familie haben. Ergebnisse der sogenannten COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigen, dass ärmere Familien, die oft auf beengtem Wohnraum leben, ebenfalls ein hohes Risiko für psychische Auffälligkeiten tragen. Auch am medizinischen Personal gehen der verstärkte Arbeitsstress und die ständige Konfrontation mit Erkrankten nicht unbemerkt vorbei.

Zudem ist die Pandemie für Kinder und Jugendliche eine starke Belastung. Denn wegen der Kita- und Schulschließungen waren sie lange von ihren Freunden und Spielkameraden isoliert. Dazu kommen Schwierigkeiten beim Homeschooling und möglicherweise verstärkte Konflikte mit den Eltern, weil man sich während der Shutdowns kaum aus dem Wege gehen konnte.

Besonders anfällig sind Jugendliche mit psychischen Vorerkrankungen wie beispielsweise Depressionen. Die psychische Vorbelastung erschwert es ihnen, mit der Krise mental umgehen zu können. Digitale Beratungsstellen und Hilfetelefone berichten, dass die Nachfrage nach Beratung seit März 2020 angestiegen ist.

Am stärksten betroffen sind häufig Alleinstehende und alte Menschen, die aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos wenig Kontakt zu ihrer Familie haben

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Risikogruppen sind auch mental anfälliger

In doppelter Weise betroffen sind Patienten mit Hormon- und Stoffwechselerkrankungen: Sie gehören nicht nur zur Risikogruppe für schwere Covid-19-Verläufe, sondern sind oft auch anfälliger für die mentalen Folgen der Pandemie. Sorgen um ihre allgemeine Gesundheit und den Verlauf ihrer Therapie bringen den Hormonhaushalt durcheinander. Durch das Stressempfinden wird vermehrt das Stresshormon Kortisol ausgeschüttet, das viele Stoffwechselprozesse steuert.

Der erhöhte Kortisolspiegel lässt den Blutzucker ansteigen und beeinflusst so auch den Stoffwechsel der Betroffenen. Ärzte fürchten, dass damit das Infektionsrisiko für Corona beispielsweise steigt. Experten wie Matthias Weber, Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, bestätigen, dass „Betroffene schnell in einen Teufelskreis aus Angst, Stress und schlechter Stoffwechsellage [geraten], was zu besonderen gesundheitlichen Herausforderungen führt“.

Die andere Seite der Medaille

Existenzsorgen, Stress und Angst um die Gesundheit prägen unseren Alltag. Aber geht es wirklich allen schlechter? „Aktuell machen sich die Menschen deutlich mehr Sorgen als vor der Krise, sie sind weniger fröhlich und gelassen“, erklärt Nico Rose von der International School of Management in Dortmund. „Das ist allerdings nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit. Die Menschen bemerken, dass sie mit großen Problemen fertig werden, investieren mehr Energie in enge Beziehungen und gewinnen mehr Klarheit zur Frage, was wirklich wichtig ist im Leben.“

Diesen Blickwinkel bestätigen auch die Ergebnisse seiner Blitzumfrage: Erstaunlicherweise erfahren 70 Prozent der über 1.200 Teilnehmer trotz der Herausforderungen eine Art psychisches Wachstum. Die Ergebnisse der Umfrage deuten darauf hin, dass viele Menschen mehr Mitgefühl entwickeln und hilfsbereiter werden – ein Eindruck, der sich auch durch die Zunahme an Solidarität in der Bevölkerung und der Wirtschaft bestätigen lässt. „Wir können in und an Krisen wachsen. Unter den richtigen Umständen bringen sie das Beste in uns hervor – und auch das Beste zwischen den Menschen und in der Gesellschaft an sich“, erklärt Rose das unerwartete Phänomen.

Umfragen belegen, dass der Stellenwert von Parks und Grünflächen in der Corona-Pandemie stark gestiegen ist.

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Dankbarkeit als Schlüssel

Insbesondere weibliche Befragte berichten von einem verstärkten Gefühl der Dankbarkeit beispielsweise dafür, dass sie Hilfe bekommen oder dass sie selbst noch relativ gut über die Runden kommen. Für Männer trifft dies in einem geringeren Maße zu. „Wir wissen schon länger, dass Dankbarkeit ein wichtiger Schlüssel zur Überwindung von Krisen ist“, erläutert Rose und betont, dass Dankbarkeit gerade die mentale Gesundheit fördert.

Menschen können Stress und gleichzeitig Dankbarkeit empfinden, so der Psychologe. Dieser Möglichkeit müsse mehr Beachtung geschenkt werden. Zusätzlich ist festzustellen, dass Menschen mit höherem Einkommen und Bildungsstatus meist etwas mehr Anzeichen des psychischen Wachstums empfinden.

In der Krise Entspannung finden

Aber was kann man noch tun, um den psychischen Druck zu verringern? Hier ist vor allem der Gang ins Grüne hilfreich. Wissenschaftler der Hochschule Geisenheim haben untersucht, welche Bedeutung Gärten und Grünanlagen während der Krise haben. „Wir können erkennen, dass aktuell die Nutzung sowohl von privaten Gärten als auch von öffentlichen Grünanlagen einen positiven Einfluss auf die Lebenszufriedenheit haben.“, so das Ergebnis der Befragungen. Über die Hälfte der Befragten gibt an, dass der Garten oder die öffentliche Grünanlage in diesem Jahr wichtiger ist als im Vorjahr.

Für viele Menschen ist der eigene Garten mit einem Gefühl der Freiheit und Entspannung verbunden. 55 Prozent der Befragten sind während des Shutdowns und der Kontaktsperren bewusst nach draußen gegangen. „Es war also richtig und wichtig, dass während der Kontaktsperre Grünanlagen weitestgehend zugänglich geblieben sind, so dass sie ihre positive körperliche und mentale Wirkung entfalten konnten“, sagen die Experten. Aufenthalt im Grünen könnte also gerade bei starker mentaler Belastung für Erholung sorgen.

Internationale Studie zur mentalen Gesundheit

Die sogenannt COH-FIT Studie ist die derzeit größte Studie ihrer Art, die die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die physische und psychische Gesundheit weltweit misst. Fast 200 Wissenschaftler aus über 40 Ländern und sechs Kontinenten untersuchen die körperlichen und psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen helfen, Menschen während einer Pandemie besser zu unterstützen und festzustellen, welche Personen anfälliger für Gesundheitsprobleme sind.

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