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Analphabeten in Deutschland (Podcast 151)

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Können Sie sich ein Leben ohne to-do-Listen vorstellen? Ohne Outlook-Kalender? Ohne Adressbuch oder Handy-Reminder? Ganz klar! Wer sich ohne diese unerlässlichen Hilfsmittel durchs Leben boxt, muss ein Gedächtnisgenie sein – oder ein Analphabet. In Deutschland trifft dies auf 7,5 Millionen Menschen zu – und damit auf ein Siebtel der Erwerbsfähigen. Und fast doppelt so viele wie bislang angenommen. Zum Weltalphabetisierungstag der Unesco am 8. September 2012 hat die Universität Hamburg neueste Erkenntnisse aus der „leo. Level-one-Studie“ veröffentlichen. Susanne Böllert von wissen.de hat im Vorfeld mit der Projektleiterin Professor Anke Grotlüschen von der Uni Hamburg über den Analphabetismus in Deutschland gesprochen – ein gar nicht so seltenes, aber noch ziemlich unbekanntes Phänomen. Die Antworten von Frau Grotlüschen liest Andrea Lebeau.

wissen.de: Frau Professor Grotlüschen, wie sieht der Prototyp des Analphabeten in aus?

Grotlüschen: Es ist ein älterer Herr mit Migrationshintergrund, er lebt in der Großstadt, hat keinen Schulabschluss, dafür drei Kinder und auch seine Eltern waren bereits Analphabeten. Natürlich gibt es auch den weiblichen Analphabeten ohne Migrationshintergrund und mit Schulabschluss. Aber es ist schon so, dass Männer deutlich häufiger betroffen sind als Frauen und dass es eine starke Korrelation zwischen elterlichem Schulabschluss und Literalität der Betroffenen gibt. Anders gesagt: Analphabetismus in Deutschland wird sozial vererbt. Das ist hochproblematisch und nur mit lebenslangem Lernen und Weiterbildung in den Griff zu bekommen. Außerdem ballen sich Armut und Bildungsferne heute in der Großstadt, anders als noch in den 60erJahren, als die katholische Arbeitertochter vom Lande der Prototyp der Bildungsbenachteiligten war.

wissen.de: Die vom Bundesbildungsministerium geförderte „leo. Level One-Studie“, die die Uni Hamburg leitet, geht davon aus, dass 7,5 Mio. Menschen zwischen 18 und 64 Jahren hierzulande nicht richtig lesen und schreiben können. Das sind über 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland. Analphabetismus bei Erwachsenen scheint also deutlich weiter verbreitet zu sein, als man jahrzehntelang gedacht hat. Denn bisher ging man von um die vier Millionen aus. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

Grotlüschen: Die bisherige Schätzung von 4 Mio. hatte keine empirische Grundlage. Man hat damals verschiedene Eckpunkte wie etwa die Schulabbrecherquote herangezogen und pi mal Daumen geschätzt. Das war, solange es keine empirischen Daten gab, auch vernünftig, um überhaupt auf das Problem Analphabetismus in Deutschland aufmerksam zu machen. Doch schon damals, Mitte der 90er Jahre, erkannte man die Notwendigkeit einer Erhebung. Die Frage, wie es um die Literalisierung der Menschen in den westlichen Industrieländern bestellt ist, wird ja bereits seit 30 Jahren diskutiert. In Deutschland stieß man in den 70en auf das Problem – und zwar in den Justizvollzugsanstalten. Hier stellte man zuerst fest, dass viele Muttersprachler nicht lesen konnten. Als die Volkshochschulen dann begannen, entsprechende Kurse anzubieten, waren die schnell ausgebucht.

wissen.de: Doch erst jetzt – nach Ihrer Befragung von über 8000 Personen - liegen belastbare Zahlen zum Analphabetismus in Deutschland vor. Wieso haben wir uns nicht schon früher des Problems angenommen wie zum Beispiel Amerika oder Kanada. Auch in Frankreich wusste man schon 2004, dass 9 % der Erwachsenen zu den Analphabeten gezählt werden müssen, in England hatten dies Studien bereits 2003 für 16 % der Erwerbsfähigen belegt.

Grotlüschen: Diese Länder sind uns hier wirklich weit voraus. Dass sich Frankreich und England schon viel früher mit Analphabetismus bei Erwachsenen auseinandergesetzt, Strategien zur Verbesserung des Problems aufgelegt und viel  Geld in die Hand genommen haben, liegt aber daran, dass es dort, anders als bei uns, eine muttersprachliche Migration gibt. Ein eingewanderter Pakistani, der in seiner Heimat Englisch als Amtssprache zwar sprechen aber nicht schreiben gelernt hat, oder Zuwanderer aus ehemaligen französischen Kolonien, die Französisch weder lesen noch schreiben können - das konnte man akzeptieren. Bei uns im Land der Dichter und Denker, fürchte ich, wollte man das Problem lange nicht wahrhaben. Doch ist Denken und Dichten nicht Lesen und Schreiben.

wissen.de: Ab wann genau spricht man eigentlich von Analphabetismus – wenn man ein A nicht von einem O unterscheiden kann?

Grotlüschen: Bei der Definition von Analphabetismus unterscheidet man die Buchstaben-, die Wort-, die Satz- und die Textebene. Wenn die Textebene unterschritten wird, sprechen wir von Funktionalem Analphabetismus. Das heißt, man kann schon einzelne Sätze zu Papier bringen. Das sieht nicht schön aus, geht langsam und macht man auch nicht freiwillig. Aber es geht. Und genau von diesem Funktionalem Analphabetismus sind in Deutschland 7,5 Millionen Menschen betroffen. Weitere vier Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung scheitern schon an einzelnen Sätzen oder Wörtern. Diese zählen wir zu den Analphabeten im engeren Sinne.

Was mich an unseren Forschungsergebnissen selbst aber am meisten überrascht hat, war die Zahl derer, die nur eine Ebene über dem Funktionalen Analphabetismus zu finden sind. 13,3 Millionen – oder ein Viertel der erwerbsfähigen Personen in Deutschland – machen so unglaublich viele Rechtschreibfehler, das malen Sie sich gar nicht aus. Die Rechtschreibung, wie sie bis zum Ende der Grundschule unterrichtet wird, beherrschen diese Menschen nicht mehr.

wissen.de: Aber ist es denn so schlimm, wenn man ein paar Rechtschreibfehler macht?

Grotlüschen: Der Schriftsprachgebrauch ist eins der härtesten Distinktionsinstrumente der Oberschicht. Sprechen Sie Hochdeutsch? Beherrschen Sie die korrekte Rechtschreibung? Wie ist Ihr schriftliches Ausdrucksvermögen? Erfüllen Sie diese Anforderungen nicht, sind Sie von jeder Karriere ausgeschlossen.

wissen.de: Dann sind die Konsequenzen für Menschen, die gar nicht richtig lesen und schreiben können, also verheerend?

Grotlüschen: Was Weiterbildungschancen angeht, ja. Die Betroffenen sind zwar durchaus in der Lage zu arbeiten. Immerhin sind 57 Prozent der Funktionalen Analphabeten erwerbstätig – auch wenn es sich meist um Berufe handelt, in denen vor allem körperliche Arbeit zählt, wie Bauhilfsarbeiter, Maschinist oder Fließbandarbeiter. Aber wenn sie einmal ihre Arbeit verloren haben und eine Weiterbildungsmaßnahme ergreifen sollen, dann ist die Angst groß. Denn die Schulbank drücken hieße, einen Stift in die Hand nehmen zu müssen. Und das versuchen die Betroffenen mit aller Macht zu verhindern. Aber manchmal platzt auch endlich der Knoten und es kann ein Schreibkurs vermittelt und das Problem in Angriff genommen werden.

wissen.de: Aber seltsamerweise stellen Sie in der leo-Studie fest, dass knapp die Hälfte der Funktionalen Analphabeten einen unteren Bildungsabschluss besitzt. Wie haben diese Menschen denn die Schule geschafft, ohne Lesen und Schreiben zu können?

Grotlüschen: Oh, diese Leute sind sehr krisenfest und ausredenkreativ. Man kann bei schriftlichen Prüfungen fehlen und sie später stattdessen mündlich machen, man kann Referate halten oder eine praktische Arbeit ablegen, statt eine Klassenarbeit zu schreiben. Außerdem erhalten Analphabeten häufig Hilfe von Dritten. Das gilt für die Schule wie später auch fürs Berufs- und Privatleben. Es gibt Mitwisser; den Arbeitskollegen, der hilft, die Ehegattin, die die Formulare ausfüllt, den Freund, der beim Miet- oder Handyvertrag noch einmal drüber schaut.

wissen.de: Dennoch sind Politik und Gesellschaft doch in der Pflicht, den Analphabetismus in Deutschland zu bekämpfen, oder nicht? Müssen sich da nicht vor allem die Schulen an die Nase fassen?

Grotlüschen: Unser Schulsystem ist nicht das Problem. Seit Pisa 2000 hat es sich deutlich verbessert. Die Risikogruppe für Analphabetismus hat sich von 23 auf jetzt 18 Prozent verringert. Da hat die Schulpolitik etwas erreicht. Nicht erreicht werden konnten dagegen die Menschen, die die Schule bereits verlassen haben. Wir haben festgestellt: Analphabetismus in Deutschland tritt in der Regel erst nach dem Schulbesuch auf.

wissen.de: Das heißt, die Leute konnten einmal lesen und schreiben und haben es verlernt?

Grotlüschen: Richtig. Die schlechten Lese- und Schreibkenntnisse nivellieren sich noch weiter nach unten. Die Gründe für das Verlernen von Lesen und Schreiben können Krankheiten wie Parkinson oder Schädigungen nach Unfällen sein sowie Suchtkrankheiten. Aber auch fehlendes Feedback in späteren Jahren führt dazu, dass die Literalität der Menschen immer stärker sinkt, je älter sie werden. Da gibt es dann keinen mehr, der sagt, „das schreibt man aber anders“, oder „nimm dir mal einen Stift und schreib das mal auf“.

wissen.de: Nun hatte Bildungsministerin Annette Schavan bereits im Februar 2011 ein 20-Millionen-Euro-Programm zur Alphabetisierung und Bildung am Arbeitsplatz angekündigt. Wie weit ist dies inzwischen gediehen?

Grotlüschen: Bislang ist es noch nicht gestartet. Wir befürchten ein bisschen, dass die Länder, die dieses Programm komplementär finanzieren sollen, sich zieren könnten und es zu Verzögerungen kommen könnte. Aber gerade der Beitrag der Länder ist für die Betroffenen sehr wichtig. Denn Weiterbildung ist Ländersache. Wir hoffen aber, dass wir am Weltalphabetisierungstag Neues zu diesem Förderprogramm erfahren werden. Glücklicherweise können wir bei den Fraktionen, aber auch den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden ein wachsendes Engagement zu Bekämpfung des Analphabetismus in Deutschland feststellen.

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