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Lew Tolstoi - ein Leben voller Krieg und Frieden (Podcast 105)

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Die Empfindungen der Menschen in höchster Präzision festzuhalten – kaum einem ist dies je so gelungen wie Lew Tolstoi, russischer Schriftsteller, der auch als Moralist und Philosoph Weltruhm erlangte, der neben Dostojewskij als einer der größten Realisten der russischen und internationalen Literatur des 19. Jahrhunderts gezählt wird. Seine in vielen Facetten biographisch geprägten Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina gelten als die Klassiker jener Epoche schlechthin. Er fühlte sich dem einfachen Volk tief verbunden und lebte – auch nachdem er längst zu weltweitem Ruhm gelangt war – in einfachen Verhältnissen. Ein nützliches Leben wollte er führen, der Menschheit dienen, immer auf der Suche nach dem Sinn des Daseins, dem wahrhaftigen Glauben, der Gerechtigkeit und dadurch strebend nach dem eigenen Seelenfrieden. Vor 100 Jahren, am 20. November nach gregorianischem Kalender, starb Lew Tolsto; sein Vermächtnis aber ist noch heute aktuell, ist noch heute Maßstab anspruchsvoller Prosa.
 

Auf der Suche nach sich selbst – Tolstois Werdegang
 

Am 9. September 1828 wurde Lev Nikolajewitsch Tolstoi geboren – in Jásnaja Paljána bei Túla, etwa 200 Kilometer südlich von Moskau – als Spross eines russischen Adelsgeschlechts mit deutschen Wurzeln. Zwar wurde er mit nur neun Jahren Vollwaise und kam in die Obhut seiner Tante, verlebte aber eine sonst unbeschwerte, glückliche Kindheit.
Als junger Mann begann er das Studium orientalischer Sprachen an der Universität Kasan, wechselte dann ans juristische Institut, stellte aber auch dort schnell fest, dass sich sein Interesse in Grenzen hielt. Viel eher stand dem jungen Grafen der Sinn danach, sich in den angesagten Salons der Stadt zu verlustieren. Nach drei Jahren schließlich brach er sein Studium ab – mit der Begründung, die Lage der 350 Leibeigenen der Familie durch Landreformen verbessern zu wollen.
 

"Heutzutage schreibt jeder neue Gesetze; schreiben ist leichter als handeln." – Lew Tolstoi, Krieg und Frieden
Aber erste Versuche, ein vorbildlicher Gutsherr zu sein, scheiterten. Noch fehlte es an Strukturiertheit und Willensstärke. So suchte er zunächst Zerstreuung in Moskau und Sankt Petersburg, vertrödelte seine Zeit als eleganter Müßiggänger, schwankte zwischen Vergnügen und Askese, Leichtlebigkeit und Frömmigkeit, verlor beim Kartenspielen so viel Geld, dass er sein Familiengut veräußern musste, plante vorübergehend die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, interessierte sich plötzlich für Musik – und fing an zu schreiben.

Und dann meldete er sich als Freiwilliger in der zaristischen Armee und erlebte den Krieg im Kaukasus. Die beeindruckende Natur und das karge Leben der Kaukasier im herben Kontrast zum Zeitvertreib der adligen und intellektuellen Großstädter inspirierten ihn zu seinen frühen Erzählungen. [2a] Sobald die renommierte Zeitschrift Savremjennik, also „Zeitgenosse“, seine Texte veröffentlicht hatte, verbreitete sich die Nachricht der Entdeckung eines neuen, außerordentlichen Talents. Mit Orden und Medaillen behangen kehrte er heim – und verurteilte doch jene, die Krieg führten, denn er hielt diesen für hässlich und ungerecht.

 

Krieg und Frieden - Vojna i mir


Ein Nationalepos in Prosa, ein vierteiliger historischer Roman von ungeheurem Detailreichtum und einzigartiger Geschlossenheit, ein filigranes Gemälde Russlands im Krieg gegen Westeuropa: Krieg und Frieden ist eines der mächtigsten, eigentümlichsten und bedeutendsten Werke der Weltliteratur. Es schildert die sieben Jahre von 1805 bis 1812, blickt in jeden Winkel, von der Bauernhütte bis ins Kaiserschloss, lässt die breite Masse, aber auch alle großen Akteure jener Epoche auftreten, greift historische Begebenheiten auf wie den Brand Moskaus, aber auch Teestunden und Bälle. Zahlreiche Handlungsstränge spannen ein straffes Netz zwischen rund 250 Figuren, auf die näher eingegangen wird. Aber all diese Personen, die da zu spielen glauben, sind nichts weiter als Schachfiguren in Schicksals Hand. Napoleon und sein strategisches Genie werden der Lächerlichkeit preisgegeben, während sich das Tolstoische Ideal viel mehr in dem demütigen Soldaten Karatájew widerspiegelt. Zwischen den Zeilen liest man die Zuneigung, Wärme und Sehnsucht des Dichters für das russische Volk, das das Unvermeidliche ergeben trägt, das sich der Vorsehung unterordnet.
 

Neben historischen Anekdoten sind Tolstois eigene Familiengeschichte, philosophische und gesellschaftliche Überlegungen wie der Gegensatz zwischen Adel und Geldadel in das Werk mit eingebunden. Krieg und Frieden, Tolstois umfangreichster Geniestreich, diente als Grundlage für zahlreiche Kino-, Fernseh- und Hörspielproduktionen.

 

Lew, der Löwe, und die Frauen

"Die Frau, siehst du, ist ein merkwürdiges Geschöpf, so eifrig du dich auch bemühen magst, sie zu ergründen, du wirst immer etwas völlig Neues an ihr entdecken." – Lew Tolstoi, Anna Karenina

Dieser junge Mann mit grobem, hässlichem, bäurischem Gesicht und ebensolchen Händen und Füßen, so seine eigene Einschätzung, hält sich erst von der Damenwelt fern. Dann aber lässt er ab von seiner Scheu, hat zahlreiche Affären mit Bauerntöchtern und Zigeunerfrauen und nimmt schließlich, mit 34 Jahren, die 18-jährige Sofia Andréjewna Behrs, eine Nachbarstochter deutscher Herkunft, zur Frau. Gemeinsam bekommen sie 13 Kinder, von denen fünf bereits im frühen Kindesalter sterben.

Während Tolstoi unter anderem seine monumentalen Werke wie Krieg und Frieden und Anna Karenina schrieb, unterstützte ihn seine Frau nach Leibeskräften. Sieben Mal soll sie die 1650 Seiten von Krieg und Frieden abgeschrieben haben. Das Zusammenleben mit dem Genie aber war nicht einfach: Oft verlor er die Selbstbeherrschung, wurde hysterisch oder zog sich zurück.

Der Film "Ein russischer Sommer" von 2009 greift die letzte Jahre des großen Schriftstellers und die letzte Phase der fast 50 Jahre währenden Beziehung zwischen Lev und Sofia auf – gespielt von Christopher Plummer und Helen Mirren: Sofia lehnte es ab, dass ihr Mann sein gesamtes Werk dem russischen Volk und nicht seinen Nachkommen zu vermachen gedachte. Mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter machte er sich auf eine letzte große Reise, die ihn an das Ende seiner Beziehung zu Sofia und schließlich auch das seines Lebens führte.

 

Anna Karenina

 

Unter Tolstois Romanen gilt dieser als künstlerisch vollkommenster. „Nichts in der europäischen Literatur kann damit verglichen werden“, räumte Dostojewskij neidlos ein. Das Werk handelt von Ehe und Moral in der adligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, von der Tragödie einer liebenden Frau, die an einer aus eigener Sicht verbrecherischen Leidenschaft leidet.

Das achtteilige Epos verknüpft die Geschichten dreier Familien, schildert das Glück und das Scheitern von Liebe und Ehe. Im Zentrum steht die Leidenschaft zwischen Anna und Graf Wronskij, die schon während ihres ersten Aufeinandertreffens entflammt. Ihre Beziehung lässt sich bald nicht mehr verheimlichen. Scheidung, gesellschaftliche Ächtung und der Entzug des Sohnes aus erster Ehe sind die Folgen, an denen letztlich auch Annas Beziehung zu Wronskij scheitert. An die Stelle von Liebe und Leidenschaft treten Eifersucht und Selbstzweifel.

 

"Es ist jedoch für einen Unzufriedenen schwer, einem anderen, und namentlich dem, der ihm am nächsten steht, keine Schuld an seiner Unzufriedenheit zuzuschreiben."

und

"Die grausamsten Worte, die ein roher Mensch sagen könnte, sagte er ihr in ihrer Einbildung und sie verzieh sie ihm nicht, als hätte er sie in Wirklichkeit gesagt." – Lew Tolstoi, Anna Karenina


Anna wählt den für sie einzigen Ausweg: den Tod. Generationen von Lesern haben schon mit ihr geliebt und gelitten – genau so wie der Autor selbst, als er sich von 1873-78 diesem Stoff widmete. Greta Garbo, Vivien Leigh, Jacquelin Bisset, Sophie Marceau und viele andere große Schauspielerinnen sind in die tragische Rolle der Anna Karenina geschlüpft.


Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens

 

"Es sind immer die einfachsten Ideen, die außergewöhnliche Erfolge haben." – Lew Tolstoi, Krieg und Frieden

Neben seinen großen Romanen beschäftigte sich Tolstoi mit Volkspädagogik. Seine Reformbestrebungen galten einer den verschiedenen kindlichen Perspektiven angepassten Bildung. Auf seinen Reisen durch Westeuropa erforschte er Schulsysteme und Erziehungsmethoden, traf Künstler wie Dickens und Turgenew sowie Pädagogen wie Fröbel und Diesterweg. Nach seiner Rückkehr gründete er für Bauernkinder eine Dorfschule nach dem Vorbild Rousseaus, der 20 weitere Einrichtungen folgten. Auch nachdem die zaristische Verwaltung seine Schulen schloss, widmete er sich weiterhin diesem Thema, schrieb Lesebücher und Erzählungen für den Geschichts-, Physik-, Biologie- und Religionsunterricht. Ganze Generationen russischer Schüler erhielten bis in die 1920er Jahre ihre Grundschulbildung nach Tolstois "Alphabet".


"Die Vernunft ist dem Menschen gegeben, damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt." – Lew Tolstoi, Anna Karenina

und:

"Die Vernunft drückt das Gesetz der Notwendigkeit aus, das Bewusstsein das Wesen der Freiheit." – Lew Tolstoi, Krieg und Frieden

Als Beteiligter an der Volkszählung 1882 gewann er ein Bild von dem grausamen Elend unter den Arbeitenden und den Bauern. Daraufhin widmete er sich intensiv der aktiven Hilfe, indem er zum Beispiel Unterstützung für die von Missernten betroffenen Landwirte organisierte, und der ihn selbst immer mehr einnehmenden Sinnsuche. Er verzichtete auf Rauchen, Alkohol und seiner Auffassung nach „grausamen Vergnügungen“ wie die Jagd, ernährte sich vegetarisch und kleidete sich wie ein Mann des einfachen Volkes – immerzu bemüht, sich moralisch weiterzuentwickeln. Er setzte sich für politisch und religiös Verfolgte ein, besuchte Inhaftierte und publizierte seine Weltanschauungen. Es war die Zeit eines inneren Umbruchs.

 

Auferstehung - Vaskresénije

 

Dieser dritte und letzte Roman Tolstois erschien 1899 als zensierte Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift Niva. In diesem Werk schildert der Autor unter anderem einen Gottesdienst im Gefängnis – die tiefe Abscheu, die daraus zu lesen ist, wird Dreh- und Angelpunkt eines folgenschweren Konflikts zwischen dem Dichter und der orthodoxen Kirche.

 

Tolstoi – geachtet und verachtet

 

Seit 1881 hatte sich Tolstoi intensiv religiösen Fragen zugewandt, Gespräche mit führenden Geistlichen gesucht und Reisen zu Kirchen und Klöstern unternommen. Dabei entwickelte er eine tiefe Abneigung gegen die rituellen Formen der Religiosität und stellte gängige Glaubensausübungen jene schlichten Lehren Jesu entgegen. Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit waren seine Maxime! Er übersetzte die Evangelien erneut ins Russische und versuchte, die Bedeutung von Tod, Sünde, Reue und die Möglichkeit einer moralischen Auferstehung zu durchleuchten. Die Verbreitung seiner Anschauungen, die in seinem Roman Auferstehung gipfelten, zog den Zorn politischer und kirchlicher Einrichtungen und schließlich die Exkommunizierung nach sich. Unbeirrt führte er seinen moralischen Rigorismus im religiösen und gesellschaftlichen Bereich fort, warf sich selbst und der reichen Oberschicht, der er selbst entstammte, eine egozentrische und sinnentleerte Attitude vor. Als religiös inspirierter Anarchist, als der er nach öffentlicher Meinung galt, verschaffte er sich Achtung im Ausland, aber auch Ächtung im Inland. Jenen Tolstoianismus aber, den seine stärksten Bewunderer gründeten, lehnte er ab.
Sein Werk galt als mit wegbereitend für die revolutionären Unruhen und den Petersburger Blutsonntag im Jahre 1905 – und dabei stand sein Name stets für eine radikale Gewaltlosigkeit.


"Jede gewaltsame Reform verdient getadelt zu werden, weil sie das Übel nicht bessern wird, solange die Menschen so bleiben, wie sie sind, und weil die Weisheit Gewalt verschmäht." – Lew Tolstoi, Krieg und Frieden

Auf seiner letzten Reise erkrankte er an einer Lungenentzündung und starb, von der Weltpresse umlagert und unversöhnt mit der Kirche. Tolstoi, ein zutiefst spiritueller Mensch, der den institutionalisierten Glauben strikt ablehnte, liegt auf eigenen Wunsch in Jasnaja Poljana begraben – in "nicht geweihter" Erde. Und die Rechte an seinem Werk waren wieder seiner Ehefrau zugesprochen worden.

Tina Denecken, wissen.de-Redaktion

 

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