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Rassismus in der Provinz

Durch meine Chemotherapie habe ich alle Haare verloren und mich schon früh gegen eine Perücke und für verschiedene Kopftücher entschieden. Nun mache ich mir durch den Krebs Gedanken zu Rassismus und muss mich wundern.

von Jess Doenges, Baden-Baden

Endlich kann ich wieder rausgehen, freue ich mich. Der Sommer ist vorbei, mein Krebs so gut wie bekämpft, doch die Haare sind noch weg. Also trage ich nach wie vor meine Kopftücher. Im Sommer schien das kein Problem - es war vermutlich nicht so auffällig, eher eine "Sommerfrisur". In letzter Zeit jedoch ernte ich immer öfter böse Blicke, vor allem von älteren Menschen, manchmal jedoch auch von Jugendlichen. Neulich dachte ich, ich kriege ein paar aufs Maul, aber dann zogen sie doch ab und setzten sich in der S-Bahn woanders hin. Ich lebe in keiner Großstadt, mit Fremdenfeindlichkeit kam ich nie in Berührung, weil ich sommersprossig und früher mit brünettem Haar nicht unbedingt Aufmerksamkeit erregte. Nun jedoch schon. Mir wird manchmal Angst und Bange, wenn es wieder so ein Tag ist, an dem ich wirklich viel unterwegs bin. Manchmal sehe ich freundliche Blicke, meistens von anderen Frauen. Sie scannen mich auch ab, wie die negativen Leute auch, aber sie lächeln danach, manchmal mitfühlend, manchmal einfach nur nett. Dann denke ich "Oh nein, die Arme, kam auch schon mit dem dusseligen Krebs in Berührung". Ich lächle zurück und gut ist. Die anderen lächle ich auch an, doch dann sehe ich meist schnell weg, nicht dass ich dann doch zuviel Aufmerksamkeit errege. Soll ich sagen "isch hol gleisch meine große Brüder" oder "meine Religion ist nicht der Islam sondern der Krebs"? Eine meiner besten Freundinnen ist Türkin und trägt schon lange ein Kopftuch. Wie sie die Blicke aushält ist mir im wahrsten Sinne des Wortes schleierhaft, aber ich bewundere sie nun nur noch mehr. Ich glaube an Vieles, nicht nur an den einen Gott, darum lese ich auch viel und beurteile die Menschen nicht nach ihrem Äußeren. Darum fällt es mir auch so schwer, das immer auszuhalten. Andererseits muss ich ja auch nicht immer Mützen anziehen. Meist sind die Tage nicht so kalt, dann reicht ein Tuch. Wenn ich die Mütze anhabe, guckt keiner.
Dann, wieder einer dieser angstbesetzten Tage, ich mache noch eine kleine Besorgung und muss in den Bus, da guckt mich ein glatzköpfiger Typ genau an und ich denke nur "oh nein, nicht schon wieder". Dann die Überraschung: "Tschuldigung dass ich so indiskret bin, aber...Leukämie?" Ich bin platt. "Nein", schüttele ich den Kopf, "Lymphdrüsenkrebs. Aber ich find´s cool dass Sie fragen, Sie sind der erste, der nicht böse guckt." Verstohlen schauen 2 Leute unter sich. Ertappt? Ich weiß es nicht. Der Typ jedenfalls ist echt nett, erzählt, dass man von ihm immer denkt er sei ein Nazi, weil er wegen des sich lichtenden Haupthaars einfach alles abrasiert hat. Und wenn er dann mit seiner afrikanischen Freundin und dem gemeinsamen Kind um die Ecke kommt, wundern sie sich alle. Das mit dem Kopftuch hat ihn jetzt einfach interessiert und dann findet er es eben ehrlicher, nachzufragen. Eine Frage werde ich dann auch noch los, bevor ich aussteigen muss. "Ist Ihnen nicht furchtbar kalt, so am Kopf, ohne Mütze?" (Mir ja!) Er sagt nein. Hat ers gut. Und ich wünsche mir, dass mich mehr Leute fragen statt böse anstarren. Oder gar bedrohlich. Ist doch nur Krebs. Diese Begegnung versöhnt mich mit dem Tag.

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