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„Schule des Lebens“: Wie Freiwilligenarbeit Menschen verändert

Abi – und was dann? Theresa fiel diese Entscheidung nicht schwer. Die 20-jährige Abiturientin wolle „etwas Sinnvolles tun“ und dort hingehen, „wo sie wirklich gebraucht wird.“ Gelandet ist sie dann im Westen Rumäniens, wo sie ein knappes Jahr lang körperlich und geistig behinderte Kinder in einem Tageszentrum betreuen sollte. Dieses Jahr ist nun vorbei. Theresa zieht Bilanz über eine Zeit voller Höhen und Tiefen.
Theresa G.

Ein Jahr Rumänien, ein Jahr Freiwilligenarbeit in einer sozialen Einrichtung, ein Jahr einfach anders leben. Heute, im Rückblick, frage ich mich immer noch, was genau mir kleiner Abiturientin den Mut gegeben hat, alles Vertraute zurückzulassen und mich in das Riesenabenteuer Rumänien zu stürzen. Ich hatte keine Vorstellung von dem, was auf mich zukommen würde, von dem Land, den Menschen, meiner Aufgabe als Betreuerin für behinderte Kinder, all den Herausforderungen und der Verantwortung, die auf mich warteten. Soweit ich mich erinnern kann, steckte in meinem Motivationspäckchen eine gewaltige Portion Abenteuerlust. Ich war einfach begierig daraus, mein bisheriges Umfeld zu verlassen, neues zu erleben, andere Länder, Menschen, Kulturen und auch mich selbst zu entdecken. Das typische „Schule-vorbei-jetzt-geht’s-auf“ Gefühl eben. Aber da war noch mehr drin, schwerer zu definieren. Ein Gefühl, dass ich in vorbereitenden Gesprächskreisen immer mit dem Wunsch „Was Sinnvolles zu tun“ umschrieb. Der innere Drang, die engen Grenzen meiner kleinen behüteten Welt zu überschreiten und dahin zu gehen, wo ich wirklich gebraucht werde, wo ich Gutes tun kann. Ich wollte da sein für Menschen, die von der Öffentlichkeit übersehen, vom Fortschritt zurückgelassen, vom Wohlstand ausgeschlossen sind, ihnen meine Zeit und meine Hände anbieten. Und so kam ich nach Timisoara im äußersten Westen Rumäniens.


„Ich hatte nicht mit dem echten Leben gerechnet“

Dass alles keineswegs genau so lief, wie ich mir das vorgestellt hatte, wurde mir in den folgenden Monaten immer deutlicher klar. Ich war mit viel zu idealistischen Erwartungen gekommen, hatte mir Wunder was vorgestellt, was ich leisten würde, wie wundervoll leicht das Leben sein würde, wie dankbar alle Menschen mir gegenüber sein würden. Da hatte ich aber nicht mit dem echten Leben gerechnet. Das holte mich nämlich schön sicher in die Realität zurück. Und das war gut so. Denn so verschieden sie auch von meinen Vorstellungen war, so viele andere wertvolle Eindrücke bekam ich doch zurück.

Obwohl Timisoara ein recht gut ausgebautes öffentliches Verkehrsmittelsystem besitzt, dauerte es im Morgenverkehr immer eine gute Stunde, bis ich auf dem Parkplatz im Zentrum der Stadt ankam, an dem meine Chefin mich mit den Kleinbus des Tageszentrums abholte, in dem wir dann eine weitere Stunde durch die umliegenden Dörfer kurvten, um all die behinderten Kinder einzusammeln, die in der Einrichtung betreut werden. Durch diese Touren bekam ich stets sehr tiefe Eindrücke in die traditionelle rumänische Lebensweise auf dem Land und die teilweise erschreckende Armut. Wir überholten klapprige Pferdewägen, auf denen ganze Familien in uralten Klamotten auf den Acker fuhren, scheuchten Gänse- oder Schafherden mit ihrem in Felle gekleideten Hirten von der Straße und immer wieder bekam ich beim Abliefern bei den Eltern kleine Details mit, die sich mir einprägten, die Lehmfußböden, das Plumpsklo hinten im Garten und aber ganz besonders die unglaubliche Herzlichkeit der Menschen.



„Zu Anfang war ich überfordert“

Nachdem wir mit der Musik auf maximaler Lautstärke die Tagesstätte erreicht hatten, begann erst mal das Ausladen der Kinder, manche trug ich auf dem Arm, andere mussten gestützt werden, viele in ihre Rollstühle verfrachtet und der Rest rannte zwischen den anderen Betreuern, die inzwischen aus dem Haus zum Helfen gekommen waren, über den Hof zur Haustür hinein. Mit denen, die noch nicht zu Hause gegessen hatten, sei es, weil keine Zeit war, sei es, weil die Eltern sich einfach nicht darum kümmern, setzte ich mich noch kurz im Speisezimmer zum Frühstück und dann hockten wir alle im Morgenkreis, verbrachten die anschließende Zeit bis zum obligatorisch chaotischen Mittagessen mit Lernen, Physiotherapie und Logopädie, Sport und natürlich ganz viel Spielen. Nachmittags stand uns die Zeit dann zur freien Verfügung. Dabei war ich oft mit den Kindern alleine und zu Anfang auch ziemlich überfordert, da mir einerseits die Verantwortung Angst machte, ich andererseits auch schlicht und ergreifend von den meisten Dingen keine Ahnung hatte. Beispielsweise wusste ich nicht, wie ich mit einem plötzlichen Epilepsie-Anfall umgehen sollte, wie ich die verschiedenen Kinder auf der Toilette versorgen musste und, was mir eigentlich sogar am nächsten ging, ich wusste nicht, wie ich sie beschäftigen sollte. Ich hatte den Ehrgeiz, für jedes Kind immer etwas Gutes zu tun, aber es war einfach manchmal schwer, etwas zu finden oder die Kinder überhaupt zu begeistern.



„Die Kinder und ich wuchsen richtig zusammen“

Wie der Volksmund so schön und klug behauptet, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und mit der Zeit wuchs ich in meine Aufgaben hinein, bekam viel beigebracht, mehr von Seiten der Kinder als von meinen Kollegen, und hielt mich einfach an’s viel gerühmte Learning-by-doing. Da ich noch nie Erfahrung im Umgang mit geistig und körperlich Behinderten gesammelt hatte, musste ich mich ganz auf meine Instinkte verlassen und die waren Gott sei Dank meistens richtig. Die Kinder und ich wuchsen richtig zusammen, ohne Vorbehalte und Zaudern nahmen sie mich in ihre kleine Familie auf, in der jeder für jeden sorgt, alle zusammenhalten, keiner vergessen wird und jeder so akzeptiert, wie er ist, auch ich. Ich bin so dankbar für die Liebe, die mir die Kinder geschenkt haben, eine Zuneigung, die einfach mir galt, für die ich nichts besonders tun musste und mich auch nicht anstrengen. Diese Kinder haben mir so viel gegeben und beigebracht, auf ihre eigene Art und Weise.

Auch neben meiner Haupttätigkeit stellte sich meine Freiwilligenarbeit in Timisoara als Schule des Lebens heraus. Im obligatorischen Kräftemessen mit den Obdachlosen der Sozialkantine, in der ich an manchen Tagen der Woche an der Essensausgabe stand, lernte ich, mich durchzusetzen, Autorität zu verströmen, auch wenn ich nur die „Blonde Deutsche, die keine Ahnung hat“ war. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich in eine Prügelei stürzen und Besoffene mit klaren Worten und einem Griff am Kragen zur Tür hinaus befördern könnte. Gut, das hätte auch schief gehen können, aber dann wären mir die anderen Leute dort zur Hilfe gekommen. In der Suppenküche lernte ich das Leben von Menschen am Rande der Gesellschaft kennen, freundete mich mit Leuten an, die nichts besaßen bis auf die Kleider am Leib und den Inhalt ihrer Plastiktüten.


„Die Erkenntnisse haben mich verändert“

Wenn ich jetzt Bilanz ziehe aus meinem freiwilligen sozialen Jahr, dann erkenne ich Folgendes: Ich verlor Berührungsängste, Vorurteile und die rosarote Brille, gewann Selbstvertrauen, Verständnis und die Gewissheit, dass in unserer Welt noch viel zu viel getan werden muss, als dass auch nur ein Einzelner sich in seiner kleinen Sphäre behaglich zurückziehen könnte. Mein Reisetagebuch wiegt schwer, ist gefüllt mit einem Jahr völlig anderen Lebens. Ich hüte es wie einen Schatz und hoffe, all die Eindrücke und Erkenntnisse nie zu vergessen. Sie haben mich verändert.
 

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