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Tabuthema Zwangsprostitution – ein Interview

wissen.de-Autorin Lena Schilder, Sept. 2012

wissen.de: Frau Hofmann, aus welchen Ländern stammen die Frauen, die in der Zwangsprostitution landen?

Renate Hofmann
Irma Biebl, München
Frau Hofmann: Heute vor allem aus den osteuropäischen EU-Staaten wie Rumänien, Bulgarien und Ungarn, aber auch aus afrikanischen Ländern, vor allem aus Nigeria.

 

wissen.de: War das früher anders?

Frau Hofmann: Ich bin seit dem Jahr 2000 in diesem Bereich tätig. Früher kamen die Frauen schwerpunktmäßig aus den baltischen Staaten Estland, Litauen, Lettland, sowie aus Polen, Russland, Tschechien und auch Ungarn. Diese Staaten haben damals allerdings noch nicht zur EU gehört, was ein entscheidender Unterschied war.

wissen.de: Weshalb?

Frau Hofmann: Heute brauchen die EU-Osteuropäerinnen kein Visum mehr, keine Aufenthaltsgenehmigung, zumindest nicht in den ersten drei Monaten. Sie können nur mit ihrem Personalausweis einreisen. Wenn sie dann bei der Prostitution angetroffen werden, gilt dies nicht mehr als Straftat, sondern nur als Ordnungswidrigkeit, die rechtlich mit einer Geldstrafe geahndet wird.

wissen.de: Das heißt, es ist heute schwerer hinter Zwangsprostitution zu kommen?

Opfer
shutterstock.com/Knud Nielsen

Frau Hofmann: Ja, früher war es für die Polizei leichter die Frauen mit auf die Dienststelle zu nehmen, um dort die Pässe zu überprüfen. So konnte sie in Ruhe und außerhalb des Milieus mit den Frauen sprechen und Vertrauen aufbauen. Innerhalb des Bordells, Saunaclubs, oder als was auch immer diese Etablissements getarnt sind, trauen sich die meisten Frauen nicht zu sprechen, aus Angst vor ihren Zuhältern und den Menschenhändlern, die sie in diese Situation gebracht haben.

wissen.de: Wie geraten die Frauen in die Hände der Menschenhändler?

Frau Hofmann: Das ist sehr unterschiedlich. Die Frauen kommen in der Regel aus sehr armen und ungesicherten Verhältnissen mit großen familiären Problemen und sind bildungsfern aufgewachsen. Viele gehören in ihren Heimatländern ethnischen Minderheiten an, der Volksgruppe der Sinti und Roma zum Beispiel. Gemeinsam ist allen die Hoffnung auf bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen in Westeuropa.  Sie wissen in der Regel aber so gut wie nichts über die tatsächliche Situation in diesen Ländern. Damit sind die Frauen eine leichte Beute. Sie werden dann unter falschen Versprechungen nach Deutschland oder in andere EU-Länder gelockt.

wissen.de: Was wird ihnen versprochen?

Frau Hofmann: Sie glauben, sie können hier innerhalb weniger Wochen viel Geld verdienen und damit das Überleben im Heimatland für sich und ihre Familie sichern. Es wird ihnen gesagt, dass sie nur eine kurze Zeit in Deutschland bleiben werden, um hier als Folklore-Tänzerinnen oder Bedienungen in der Gastronomie zu arbeiten. Eine andere Masche ist die „Loverboy-Methode“, ein Mann wirbt um eine junge  Frau in ihrem Heimatland, macht ihr teure Geschenke, beeindruckt sie mit einem großen Auto und Einladungen. Die Frau soll sich in den Mann verlieben und ihm blind vertrauen. Dann wird sie unter einem Vorwand in das Zielland gebracht und an einen Zuhälter oder Bordellbetreiber verkauft für den sie schließlich als Prostituierte arbeiten muss.

wissen.de: Die Frauen wissen also vorher nicht, dass sie als Prostituierte arbeiten sollen?

Frau Hofmann: Viele wissen das vorher nicht. Wir treffen aber auch immer wieder auf Frauen, die „freiwillig“ anfangen haben als Prostituierte zu arbeiten, wobei die Freiwilligkeit meist nur eine bedingte ist. Viele dieser Frauen sehen keine Alternative, weil sie zum Beispiel zwei kleine Kinder ernähren müssen. Erst kürzlich hat mir eine betroffene Frau erzählt, sie müsse das Auto und zwei Motorräder für ihren Mann abbezahlen. Er hat alles auf ihren Namen gekauft, sie hat jetzt die Schulden. Betroffene Frauen werden auf vielfältige Art ausgebeutet und sie sind jung und naiv, unerfahren und verliebt genug, um sich darauf einzulassen.

wissen.de: Wie hoch ist die Zahl der Zwangsprostituierten in Deutschland?

Frau Hofmann: Das weiß niemand genau, die offiziellen Opferzahlen sind lächerlich niedrig. Wir haben auch mit Frauen zu tun, die gar nicht bei der Polizei und in der offiziellen Statistik erscheinen. Menschenhandel ist schwer nachzuweisen. Und alle westeuropäischen Länder sind Zielländer.

 

Auf der Reeperbahn in Hamburg
Fotolia.com/ts-grafik.de

wissen.de: Wie sind die Täter organisiert?

Frau Hofmann: Das ist unterschiedlich. Manche sind der organisierten Kriminalität zuzurechnen, die neben Waffen und Drogen eben auch mit Frauen handeln. Andere haben Helfershelfer in Deutschland aber auch in den Herkunftsländern der Frauen. Die Frauen wissen häufig recht wenig über die eigentlichen Täter, sie kennen nur  Spitznamen. Bei den Sinti und Roma sind es häufig Familienclans, die europaweit agieren und die Frauen weiterverschachern. Die Frauen werden dabei gar nicht als Menschen wahrgenommen.

wissen.de: Wie üben die Täter dann Druck auf die Frauen aus?

Frau Hofmann: Viele der Frauen sind Unterdrückung und Gewalt gewöhnt, das macht es den Tätern so einfach. Sie wissen gar nicht, was ein selbstständiges Leben ist. Sie sind  es gewohnt, dass andere über ihr Leben bestimmen und haben nicht selten massive Gewalt, auch Vergewaltigungen oder Missbrauch,  schmerzhaft durchleben müssen.  Bei  anderen „erinnern“ die Täter daran, dass sie durchaus wissen, wo ihre Eltern leben oder wo das Kind zur Schule oder in den Kindergarten geht und drohen mit einem „Unfall“. Mit solchen subtilen Hinweisen ist der  Widerstand der Frauen schnell gebrochen.

wissen.de: Wie werden Sie unter diesen Umständen auf die Frauen aufmerksam? Die wenigsten werden doch aktiv auf Sie zukommen?

Frau Hofmann: Nein, die Frauen kommen in der Regel nicht von alleine zu SOLWODI. Manche  wurden von Streetworkern angesprochen und haben sich ihnen irgendwann anvertraut. In der Regel kommen sie aber über die Polizei zu uns, wenn sie bei Kontrollen aufgefallen sind, etwa, weil ihre Papiere ausgelaufen oder gefälscht sind, was bei EU-Ausländerinnen wie gesagt aber kaum vorkommt, außer der Zuhälter hat ihnen den Pass abgenommen. Oder wenn der Personalausweis abgelaufen ist. Manche flüchten auch einfach, weil sie die Bedingungen unter denen sie vegetieren und arbeiten müssen nicht mehr aushalten.

wissen.de: Wie betreuen Sie die Frauen?

Frau Hofmann: In Bayern gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen NGOs wie uns, der Polizei, Behörden und der Staatsanwaltschaft. Wenn die betroffenen Frauen bereit sind als Opferzeuginnen auszusagen, kann die Polizei gegen die Täter wegen des Verdachts auf Menschenhandel ermitteln. Die EU-Ausländerinnen erhalten dann eine Freizügigkeitsbescheinigung und wir können Hartz IV für sie beantragen.  Für uns ist es oberste Priorität, dass die Frauen in Sicherheit leben und mit unserer Unterstützung eine Perspektive für ihr Leben erarbeiten können. Wir bringen sie in unserer Schutzwohnung unter und überlegen gemeinsam, wie es weitergehen soll.

wissen.de: Wollen die meisten Frauen in Deutschland bleiben?

Frau Hofmann: Auch das hat sich in den letzten Jahren verändert. Die meisten EU-Ausländerinnen möchten möglichst schnell in ihre Heimatländer zurück. Viele trauen es sich auf Grund ihres Bildungsstatus nicht zu in Deutschland Fuß zu fassen und sind desillusioniert. Der Wunsch nach Familienzugehörigkeit und Verwobenheit in verwandtschaftlichen Kreisen ist häufig größer als der Wunsch nach Eigenständigkeit. Das war früher anders, früher wollten fast alle in Deutschland bleiben.

wissen.de: Und was ist mit den Frauen aus Nigeria?

Frau Hofmann: Die Nigerianerinnen wollen bleiben, sie haben auch gar keine Alternative. Ihre Eltern und ihre Verwandtschaft haben alles dafür getan und viel Geld bezahlt, um sie nach Europa zu bringen. Sie würden es nicht verstehen, wenn die Frau jetzt mittellos zurückkehrt.

wissen.de: Frauen, die in der Zwangsprostitution gelandet sind, sind sicherlich traumatisiert. Werden sie psychologisch betreut?

Frau Hofmann: Das ist ein schwieriges Thema.  Wir treten mit Ärzten und Therapeuten in Kontakt und vermitteln eine Begleitung. Viele Frauen fühlen sich jedoch stigmatisiert, wenn man ihnen eine psychologische Betreuung nahelegt und schieben das Thema ganz weit weg. Sie empfinden das als Makel, als wolle man ihnen vermitteln, sie seien „nicht ganz richtig im Kopf“. Dabei brauchen sie dringend Unterstützung. Viele haben Selbstmordgedanken, leiden unter Schlafstörungen, Angstgefühlen oder verletzten sich selbst.  Eine Therapie fühlt sich für viele jedoch wie ein erneuter Kontrollverlust an. Sie sollen diejenigen sein, die bestimmen, was getan wird und was nicht. Außerdem ist es in den ersten Wochen und Monaten auch aufgrund der fehlenden oder nur geringen Deutschkenntnisse gar nicht möglich, ernsthaft eine therapeutische Behandlung in Betracht zu ziehen.

wissen.de: Wenn die Frauen sich entscheiden in ihre Heimatländer zurückzukehren, bleiben Sie dann noch in Kontakt?

Frau Hofmann: In der Regel nicht, häufig sind auch die sprachlichen Barrieren zu hoch. Die Frauen sprechen oft kaum Deutsch oder Englisch, manchmal auch nicht richtig ihre Muttersprache. Wir stellen jedoch den Kontakt zu einer Betreuungsstelle in ihren Heimatländern her. Ob sie sich dort melden bleibt ihnen überlassen. Viele verlassen Deutschland und wollen all die schrecklichen Erlebnisse einfach zurücklassen. Aber das funktioniert natürlich nicht.

wissen.de: Und die Frauen die hier bleiben?

Frau Hofmann: Diesen Frauen vermitteln wir Sprachkurse, helfen bei den ausländer- und sozialrechtlichen Angelegenheiten und versuchen, ihnen eine Stelle oder einen Ausbildungsplatz zu vermitteln.  Wir bringen die Frauen zunächst für eine paar Monate in unserer Schutzwohnung unter, anschließend  begleiten wir sie gerne ambulant weiter. Das ist oft ein jahrelanger Prozess.

wissen.de: Gibt es konkrete Erfolgsgeschichten?

Frau Hofmann: Ja, wir freuen uns mit jeder Frau, die den Mut aufbringt sich gegen die Gewalt zu wehren, die ihr angetan wird. Eine Frau war beispielsweise Opferzeugin in mehreren Prozessen und hat über zehn Männer und Frauen hinter Gitter gebracht. Jetzt, nach zehn Jahren, ist sie soweit, dass sie ihr Leben relativ stabil führen kann. Als sie zu uns kam war sie 19, inzwischen ist sie mit einem Deutschen verheiratet und hat gelernt, mit dem umzugehen, was ihr angetan wurde. Es war allerdings ein Weg mit vielen Hochs und Tiefs.

wissen.de: Inwiefern?

Frau Hofmann: Für die Frau waren diese Prozesse psychisch eine wahnsinnige Belastung, sie musste immer wieder sehr detailliert berichten. Sie ist mehrmals stationär behandelt worden und hat versucht sich umzubringen. Wäre sie in ihr Heimatland zurückgeschickt worden, was als Bedrohung immer im Raum stand, da sie anfangs nur eine Duldung erhielt, ich glaube, sie hätte das nicht gepackt.

wissen.de: Wird den Frauen zu viel zugemutet?

Frau Hofmann: Im politischen und rechtlichen Bereich ist vieles nicht befriedigend. Frauen werden erneut „benutzt“ – die  Ermittlungsbehörden brauchen sie als Zeuginnen, deshalb bekommen sie für den Zeitraum des Verfahrens eine Aufenthaltserlaubnis und eine Finanzierung ihres Lebensunterhaltes. Das Eigeninteresse der Frau auf ein halbwegs normales Leben in Sicherheit und Freiheit wird nur bedingt wahrgenommen. Auch nach Ende des Strafprozesses, bei dem sie als Opferzeuginnen wesentlich mitgewirkt haben, haben sie kein Bleiberecht für Deutschland. Das ärgert mich immer wieder.

wissen.de: Was würden Sie konkret ändern?

Frau Hofmann: Zum Beispiel sollten Frauen unabhängig davon, ob sie mit der Polizei als Opferzeuginnen zusammenarbeiten oder nicht ein Bleiberecht bekommen. Außerdem hatten Nigerianerinnen, die mit der Polizei zusammen gearbeitet haben, später enorme Schwierigkeiten einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Das finde ich nicht in Ordnung. Die Finanzierung ist ebenfalls nicht ausreichend. Frauen aus Drittländern bekommen Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, dessen Leistungen zum Glück im Juni 2012 etwas angehoben wurden. Sie haben keine Krankenkassenmitgliedschaft, eine psychotherapeutische Betreuung ist für Frauen aus Drittländern so praktisch nicht möglich.

wissen.de: Ist das Netz von Beratungsstellen in Deutschland gut ausgebaut?

Frau Hofmann: Es gibt in fast allen Bundesländern mindestens eine Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel. Aber die Anlaufstellen sind finanziell und damit auch personell nicht ausreichend ausgestattet. Es müssen Spenden akquiriert werden um zum Beispiel Sprachkurse für die Frauen finanzieren zu können. Das kann nicht befriedigend sein.

wissen.de: Der Begriff Menschenhandel geht ja noch über das Thema Zwangsprostitution hinaus. Haben Sie in Ihrer Arbeit auch mit anderen Formen von Menschenhandel zu tun?

Frau Hofmann: Wir sind mit dem Thema Zwangsprostitution sehr ausgelastet.  Beim Thema Kinderhandel und  Kinderausbeutung merke ich, dass mir das sehr nahe geht und ich glaube, ich würde das nicht verkraften mit Kindern zu arbeiten, die systematisch zerstört wurden. Was ich jetzt mitbekomme an Gewalt und den häufig lebenslangen Folgen für die jungen Frauen, bringt mich manchmal schon an meine Belastungsgrenze. Das Leid und die Schmerzen der Frauen sind enorm. Diese müssen mit ausgehalten werden bevor es neue Hoffnung und Lebensmut geben kann.

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