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Wenn wir mehr über das Verhalten von Zellen wüssten, ließen sich die Folgen von

© CWFG/CID

Prof. Dr Erwin Neher, Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in GöttingenProfessor Erwin Neher, Ihre Forschungen vor mehr als 30 Jahren haben dazu beigetragen, dass heutige Medikamente sicherer sind. Hätte Ihnen die moderne Gentechnologie die Arbeit erleichtert?

Auf jeden Fall. Bei der Entwicklung unserer Methoden zum Nachweis von Ionenkanälen in den Siebziger- und Achtzigerjahren konnten wir diese Kanalmoleküle nur durch elektrische und pharmakologische Reize beeinflussen. Die Gentechnik ermöglicht es uns jetzt, ihre Eigenschaften anhand gezielter Veränderungen am Molekül zu studieren.

 

Was ist überhaupt die Aufgabe von Ionenkanälen?

Diese Moleküle sitzen wie Poren in den Zellmembranen und übernehmen einen großen Teil der Kommunikation zwischen den Zellen eines Organismus. Sie vermitteln die elektrischen Signale zwischen Nervenzellen, wandeln in den Sinnesorganen physikalische Reize wie Licht, Schall und Berührung in elektrische Signale um, steuern Muskeln oder regulieren den Stofftransport in den Organen. Dabei werden zwischen der Außenwelt und dem Inneren der Zelle durch Tausende von Kanälen geladene Atome wie Natrium, Kalium oder Kalzium, also Ionen, geschleust, weshalb man diesen lebenswichtigen molekularen Schaltstellen den Namen Ionenkanäle gab.

 

Wie macht die Ionenkanalforschung nun Arzneimittel sicherer?

Ionenkanäle sind wichtige Angriffspunkte von Medikamenten. Ihre Erforschung hilft uns festzustellen, ob Medikamente im Körper genau dort andocken, wo sie eine Funktion fördern oder hemmen sollen. Wie man jetzt weiß, erzielen an die zehn Prozent der Arzneimittel ihre Wirkung an bestimmten Typen von Ionenkanälen. Ihre Zielsicherheit ist jedoch nicht immer gewährleistet. Insbesondere Kanäle von Herzmuskelzellen binden viele Substanzen, die an anderer Stelle ideale Medikamente wären. Sie lösen dadurch Herzrhythmusstörungen aus. Deshalb testet man heute noch vor der klinischen Prüfung alle potenziellen Arzneistoffe im Labor speziell auf Nebenwirkungen am Herzen.

 

Hat die Ionenkanalforschung selbst auch schon zu neuen Medikamenten geführt?

Daran wird weltweit intensiv geforscht. Eine Vielzahl von Neuropharmaka, Schmerzmitteln und Antiepileptika greifen an Ionenkanälen an. Für diese Anwendungen sind bereits wirksamere Substanzen mit geringeren Nebenwirkungen gefunden worden, zum Beispiel Substanzen, die Kalziumkanäle blockieren. Sie werden als Schmerzmittel eingesetzt, wenn die körperlichen Ursachen der Schmerzen nicht erkennbar sind. Gerade das Studium der Funktion von Kalziumkanälen zeigt, wie wichtig Grundlagenforschung ist, auch wenn sie nicht unmittelbar zu Anwendungen führt.

 

Inwiefern?

Sie fördert ganz neue Therapieansätze zu Tage. Kalziumionen sind

universelle Signalvermittler im Körper. In richtiger Dosierung regelt Kalzium eine Vielzahl zellulärer Prozesse wie etwa die Freisetzung von Hormonen oder die Muskelkontraktion. Zu viel Kalzium in der Zelle kann jedoch den programmierten Zelltod auslösen, die sogenannte Apoptose. Dieser Mechanismus gehört zum normalen Stoffwechselprogramm von Körperzellen und wurde erst vor etwa 20 bis 30 Jahren entdeckt. Er läuft in jedem Organismus in vielfältiger Weise ab, wenn es im Rahmen seiner Entwicklung erforderlich ist, gewisse Gewebe abzubauen. Auch Zellen, die das Potenzial zur Tumorbildung haben oder durch eine Überdosis Kalzium geschädigt sind, werden durch Apoptose eliminiert. Es hat sich nun herausgestellt, dass dieser Zelltod irrtümlich auch als Folge leichter Gewebeschädigung nach Schlaganfällen ausgelöst wird.

 

Aufgrund von Ionenkanälen?

Ionenkanäle haben sicher damit zu tun. Nach einem Schlaganfall bricht die Sauerstoffversorgung des Nervengewebes in der Nähe eines verstopften oder geplatzten Gefäßes zusammen, wodurch Zellen sofort

absterben. Es öffnen sich aber auch Ionenkanäle, die zu viel Kalzium in die Zellen eintreten lassen. Selbst in der Peripherie können noch Tage später Zellen abgebaut werden, weil in ihnen durch zu hohe Kalziumkonzentration die Apoptose ausgelöst worden ist. Die Kenntnis dieser Mechanismen verspricht neue Ansätze in der Therapie von

Langzeitschäden beim Schlaganfall, die noch vor 20 Jahren undenkbar waren.

 

Indem man den programmierten Zelltod zwischenzeitlich ausschaltet?

Das ist die Idee, denn das würde schlimmste Auswirkungen wie Lähmungen minimieren. Die Schlaganfallforschung ist ein gutes Beispiel für das Potenzial der Zellbiologie. Auch in Bezug auf degenerative Erkrankungen des Nervensystems wie Alzheimer, Parkinson oder die zu Muskellähmungen führende amyotrophe Lateralsklerose bestehen gute Aussichten,

dass man Behandlungsmethoden findet, die auf dem allgemeinen Verständnis zellbiologischer Vorgänge basieren.

 

Weshalb?

Nervenzellen sind anderen Zellen unseres Körpers in vielem sehr ähnlich. Sie benutzen dieselben Regulationsmechanismen beim Stoffwechsel, bei der Differenzierung oder für den programmierten Zelltod. Mögliche Therapien erfordern daher nicht unbedingt die detaillierte Kenntnis der äußerst komplexen neuronalen Signalverarbeitung in unserem Gehirn, die wir noch lange nicht im Einzelnen kennen.

 

Wäre moderne Zellforschung ohne Gentechnik überhaupt durchführbar?

Nein. Die Diskussion erinnert mich an die einstigen Vorurteile gegenüber der Elektrizität. Von einem Biowissenschaftler zu erwarten, auf die Gentechnik zu verzichten, wäre so, wie wenn man von einem Physiker verlangen würde, er solle seine Forschung ohne elektrische Geräte betreiben. Dank gentechnischer Methoden verstehen wir heute eine Vielzahl zellulärer Prozesse, von denen wir früher nicht einmal ahnten, dass sie existieren.

 

Die mögliche Heilung von neuronalen Erkrankungen oder gar Geisteskrankheiten ist keine leere Versprechung?

Uns Wissenschaftlern wird oft vorgeworfen, wir würden Versprechungen machen, ohne Beweise zu erbringen. Wäre es denn ethisch vertretbar, nicht auf Möglichkeiten hinzuweisen, selbst wenn man den genauen Weg zu einer sicheren Therapie noch nicht kennt? Ich denke, nicht. Wer Erfolgsgarantien will, verkennt das Wesen der Forschung. Sie zeigt auf, sagt aber nicht exakt vorher, was man beim Betreten von Neuland finden kann. Der Forscher weiß am besten, wo Wissenszuwachs zu erwarten ist. Deswegen muss ihm die Politik Freiräume zugestehen, damit er schnell und ohne große Einschränkungen die Dinge verfolgen kann, die er als wichtig und Erfolg versprechend erkennt.

Das Interview als Podcast auf Forum Chemie macht Zukunft


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