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Warum wir uns schämen (Podcast 165)

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Heute geht es um die Scham. Haben Sie schon einmal vor einem größeren Publikum ihr Lampenfieber nicht in den Griff bekommen? Nach dem Besuch einer öffentlichen Toilette einen drei Meter langen Streifen Klopapier am Fuß hinter sich hergezogen? Oder gar geträumt, dass sie mit dem Bus fahren und plötzlich bemerken, dass sie unbekleidet sind? Auch wenn Sie zu den glücklichen Menschen gehören, denen diese Erfahrungen bisher erspart geblieben sind: Jeder weiß, wie man sich in so einer Situation fühlt. Man möchte am liebsten im Boden versinken, aber stattdessen geschieht genau das Gegenteil: Das Herz schlägt schneller, das Blut schießt ins Gesicht, und anstatt unsichtbar zu werden, zieht man ausgerechnet jetzt alle Blicke auf sich. wissen.de-Autorin Alexandra Mankarios ist der Frage nachgegangen, wieso wir uns eigentlich schämen und was für Situationen es sind, die dieses unangenehme Gefühl in uns wecken.

 

Scham – was ist das eigentlich?

Scham hat viele Gesichter. Sie lauert hinter jedem Fettnäpfchen, schlägt zu, wenn wir bei Wissenslücken oder Lügen ertappt werden, sie lugt hervor, wenn im Sommer Kleidungsstücke verrutschen. In leichteren Fällen sind wir nur peinlich berührt und können uns nach wenigen Minuten aus der Affäre ziehen. Manchmal geht die Scham aber auch viel tiefer. Viele Menschen, die an schweren Krankheiten leiden, schämen sich, Alkoholikern etwa macht die Scham den Ausstieg aus der Sucht besonders schwer. Unter einer geradezu existenzbedrohenden Scham leiden Opfer von Missbrauch oder Folter, obwohl sie an der Gewalt, die ihnen angetan wurde, keine Schuld tragen.

Egal, wie groß die Scham ist: Der Wunsch, im Boden zu versinken oder einfach das Weite zu suchen, ist untrennbar mit dieser urmenschlichen Emotion verbunden. Dass es in dieser Hinsicht den Menschen früher nicht anders ging als uns heute, zeigt die Wurzel des Wortes Scham. Sprachwissenschaftler vermuten, dass es von dem indogermanischen Wort "Skem“ abstammt. Skem bedeutete so viel wie "sich verhüllen“ oder "sich verbergen“. Keine Frage also: Mit der Scham kommt immer auch ein Fluchtreflex.

 

Scham ist ein starkes Gefühl

Psychologen zählen die Scham zu den Affekten, genau so wie zum Beispiel Liebe, Ekel oder Wut. Die Auslöser solcher Affekte sind zwar grundverschieden, aber eins haben sie alle gemeinsam: Man kann sich nur schwer gegen diese plötzlichen Empfindungen wehren. Und sie gehen tief unter die Haut. Wie mächtig das Schamgefühl ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass man es jahrhundertelang als Strafe eingesetzt hat. Wer etwa gegen die sittlichen Regeln der Gemeinschaft verstoßen hatte, wurde öffentlich an den Pranger gestellt und musste dort den Spott der Passanten ertragen, die nicht selten auch faule Eier nach dem Bestraften warfen oder ihm ins Gesicht spuckten. Die öffentliche Diffamierung war eine tiefe Demütigung und Beschämung der Bestraften, in der Regel auch ein totaler Gesichtsverlust. Meistens jedenfalls.

Dem englischen Schriftsteller Daniel Defoe allerdings ist es 1703 gelungen, die Schmach einer Prangerbestrafung in einen Triumph zu wandeln. Als der mutige Autor des Abenteuerromans Robinson Crusoe für seine satirischen Schriften zu einer Strafe am Schandpfahl verurteilt wurde, drehte er den Spieß einfach um. Bevor er die Strafe antrat, verfasste er seine berühmte "Hymne auf den Pranger“, in der er sich mit bissiger Satire über seine Bestrafer lustig machte. Als er seine Hymne vom Schandpfahl aus vortrug, gewann er im Handumdrehen die Sympathie des Volks. Man brachte ihm Blumen, und statt Schmähungen erntete er tosenden Beifall. Defoes Erfahrung blieb allerdings eine Ausnahme, die meisten Verurteilten litten sehr unter der öffentlichen Bloßstellung.

Als tiefe Verletzung der menschlichen Würde wurde der Pranger in Europa glücklicherweise um 1850 abgeschafft. In den USA allerdings setzen manche Richter in den letzten Jahren wieder verstärkt auf eine öffentliche Beschämung von Straftätern. Unter dem Begriff "creative sentencing“ – also etwa "kreative Verurteilung“ – zwingen US-Richter neuerdings zum Beispiel Ladendiebe, stundenlang vor dem Ort ihres Vergehens auf und ab zu laufen – mit einem Schild um den Hals: "Ich bin ein Dieb. Ich habe bei Walmart gestohlen.“

 

Warum schämen wir uns eigentlich?

Wäre das Leben nicht viel einfacher, wenn wir das lästige Schamgefühl einfach loswerden könnten? Aber so einfach lässt sich die Scham eben nicht abschütteln. Und das hat gute Gründe. "Scham ist ein soziales Gefühl. Sie erinnert uns daran, dass wir soziale Wesen sind, die einander brauchen und aufeinander achten sollten“, sagt der Hamburger Professor für Psychologie und Schamforscher Wolfgang Hantel-Quitmann. "Ohne die Scham würden wir uns egoistisch und narzisstisch verhalten – mit einem Wort: unsozial.“ Und weil es eben um das Miteinander geht, braucht es zum Schämen meistens zwei Personen: Eine, die sich zum Beispiel in der vermeintlichen Privatsphäre des Autos mit der Nasenreinigung beschäftigt, und eine, deren Blick zufällig durch das Autofenster fällt und den des Nasenbohrers trifft.

Nur in wenigen Fällen sind wir Beschämter und Zuschauer in Personalunion. Das geschieht immer dann, wenn wir gegen unsere eigenen Grundsätze verstoßen. Das kann den Naturliebhaber treffen, der aus Existenzgründen das gutdotierte Jobangebot eines Pharmakonzerns annimmt oder auch manchen Ehepartner, der nebenher eine Affäre laufen hat. Meistens aber sind mindestens zwei Menschen beteiligt, damit Scham entsteht. Einer, der gegen einen gesellschaftlichen Wert oder eine Norm verstößt. Und ein zweiter, der Zeuge dieses Vorfalls wird. Insgesamt sieben Arten der Scham identifiziert der Psychologe Hantel-Quitmann. Sie unterscheiden sich vor allem durch die Art der Werte, die der Beschämte verletzt.

 

Die populärste Form der Scham: Die Intimitätsscham

In der christlichen Kultur ist die Intimitätsscham fest verankert. Gleich das erste Paar aller Zeiten ist ihr zum Opfer gefallen: Kaum dass Adam und Eva im Paradies vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, schlug die Scham zum ersten Mal zu. Das erste Buch Mose berichtet über diesen heiklen Moment: "Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“

Seither steigt uns die Schamesröte mit größter Zuverlässigkeit ins Gesicht, wann immer wir ungewollt mehr von unserem Körper entblößen als geplant, wann immer jemand ohne unsere Zustimmung einen Einblick in unsere Intimsphäre erhält. Vielleicht ging es auch Janet Jackson so, als Justin Timberlake ihr 2004 bei einem gemeinsamen, live im Fernsehen übertragenen Konzert versehentlich den BH vom Leib riss. Auf jeden Fall löste der unvorhergesehene Anblick von Jacksons Brustwarzenpiercing in Form einer kleinen Sonne einen Sturm der Empörung bei den Fernsehzuschauern aus, man unterstellte Jackson absolute Schamlosigkeit. Zwar konnten die Musikerin und der Fernsehsender CBS eine gerichtliche Verurteilung wegen Verstoßes gegen die guten Sitten abwehren. Aber noch immer ist es in den USA seit dem Vorfall üblich, größere Liveauftritte mit einigen Sekunden Verzögerung auszustrahlen, um im Zweifelsfall die Übertragung schnell unterbrechen zu können.

Janet Jacksons Bühnenunfall ist übrigens unter dem Namen "Nipplegate“ in die Geschichte eingegangen. Piercing-Hersteller verzeichneten danach einen Boom in der Nachfrage nach Brustpiercings.

 

Gruppenzwang erzeugt Anpassungsscham

Wenn sich Alkoholkranke oder Langzeitarbeitslose schämen, spricht der Psychologe Hantel-Quitmann von Anpassungsscham. Sie tritt auf, wenn jemand das Gefühl hat, nicht den Erwartungen der Gemeinschaft zu entsprechen, und befürchtet, ausgeschlossen zu werden. Selbst große Geister sind von dieser Art der Scham nicht frei. Über den Philosophen Immanuel Kant beispielsweise heißt es, er habe absichtlich komplizierte Schachtelsätze verwendet, damit sein Sprachstil seine niedere Herkunft nicht entlarvt.

Wer sich heute auf die Suche nach Opfern der Anpassungsscham macht, kann sicherlich einige in sozialen Netzwerken wie facebook finden, meint Hantel-Quitmann. Gerade unter Jugendlichen stellt er einen großen Anpassungsdruck fest. Er glaubt, dass längst nicht jeder aus freien Stücken bereit ist, sich öffentlich zu präsentieren und private Informationen über sich preiszugeben. Aber wer nicht dabei ist, wenn der Freundeskreis im Netz zusammenkommt, gilt schnell als Außenseiter und riskiert, gemobbt, beschämt und ausgeschlossen zu werden.

 

Eine neue Art der Scham

Einen Boom erlebt seit einigen Jahren eine ganz neue Art des Schämens: Das Fremdschämen. 2009 wurde der Begriff in den Duden und damit offiziell in die Deutsche Sprache aufgenommen. 2010 wurde "Fremdschämen“ in Österreich sogar zum Wort des Jahres gekürt. Das besondere an dieser Art der Scham: Sie stellt sich ein, ohne dass man selbst etwas Beschämendes getan hat. Und anders als jede andere Scham bereitet sie manchen Menschen sogar ein gewisses Wohlgefühl – jedenfalls dann, wenn wir den Verursacher der Fremdscham nicht persönlich kennen.

Die Boulevardblätter wären ohne die Fremdscham einer wichtigen Einkommensgrundlage beraubt, Sendeformate wie Castingshows oder Nachmittagstalks verdanken ihr hohe Einschaltquoten. Wenn sich jemand öffentlich blamiert, wenn ein ambitionierter Nachwuchssänger er die Töne nicht trifft oder Boris Becker sich mit einer Unbekannten in eine Besenkammer zurückzieht, dann paaren sich beim Publikum Entrüstung, Sensationslust und Fremdscham.

Hantel-Quitmann weiß, warum das so ist: "Da ist ein psychosozialer Mechanismus am Werk. Wir richten uns am Scheitern anderer Menschen auf, ihr Unvermögen relativiert unsere eigenen Defizite.“ Der Psychologe beobachtet mit Sorge, dass im Medienzeitalter immer mehr Menschen bereit sind, für einen öffentlichen Auftritt auch eine Demütigung in Kauf zu nehmen. "Offensichtlich wiegt ihr narzisstischer Gewinn stärker als die Scham“, vermutet der Psychologe. Er befürchtet, dass wir uns immer mehr daran gewöhnen, die Schamgrenzen zu überschreiten, und dass wir damit auch viele wichtige gesellschaftliche Werte wie Respekt, Mitgefühl oder Verantwortung riskieren.

 

Was tun, wenn die Scham kommt?

Sie hat also ihren Nutzen, die Scham. Aber es bleibt dabei: Sich zu schämen, ist kein angenehmes Gefühl. Was aber kann man tun, wenn man mitten im Fettnapf steht und die Schamesröte aufsteigt? "Daraus lernen“, rät Hantel-Quitmann: "Die Scham zeigt uns sehr eindrücklich, wann wir unsere innere Wildsau im Zaum halten müssen. Darauf sollten wir hören.“ Diese Erkenntnis kann helfen, künftige Schamanfälle – wenn sie sich denn nicht vermeiden lassen – besser zu ertragen: Sie gehören zum Menschsein einfach dazu. Oder mit den Worten des Ritters Gurnemanz in Wolfram von Eschenbachs Parzival: "Um edel zu empfinden, lasst Scham nicht aus der Seele schwinden."

 

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